Im Innern des Wals
uninteressiert, der Wunsch, die Weltkarte rot zu malen, war verschwunden. Er konnte nicht verstehen, was vorging, weil er nie etwas von den ökonomischen Kräften begriffen hatte, die einer imperialistischen Expansion zugrunde liegen. Es ist bezeichnend, daß Kipling, so wenig wie ein gewöhnlicher Soldat oder Kolonialbeamter, verstanden zu haben scheint, daß das Empire im Grunde ein finanzielles Unternehmen ist. Er sah im Imperialismus ein Instrument christlicher Zwangsbekehrung. Wie er es sieht, richtet man ein Maschinengewehr auf eine Horde unbewaffneter »Eingeborener« und führt dann »das Gesetz« ein, das Straßen, Eisenbahnen und ein Gerichtsgebäude nach sich zieht. Er konnte daher nicht ahnen, daß die gleichen Kräfte, die zur Entstehung des Empire geführt hatten, es am Ende auch zerstören würden. Es war derselbe Vorgang wie zum Beispiel die Umwandlung des malayischen Dschungels in Gummiplantagen, was jetzt dazu führt, daß diese Plantagen intakt den Japanern übergeben werden. Die Vertreter des modernen Totalitarismus wissen, was sie tun, während die Engländer des 19. Jahrhunderts es nicht wußten. Beides hat seine Vorteile, aber Kipling ist nie imstande gewesen, von einem zum andern überzuwechseln. Sein Weltbild, immer unter Berücksichtigung, daß er schließlich Künstler war, glich dem eines festbesoldeten Bürokraten, der auf einen »Kuli« heruntersieht und oft sein Leben lang nicht begreift, daß es der »Kuli« ist, der den Ton angibt.
Aber weil er sich mit der herrschenden Klasse identifiziert, besitzt er etwas, was »aufgeklärte« Geister selten oder nie besitzen, und das ist Verantwortungsgefühl. Die linke Mittelklasse haßt ihn deswegen ebenso wie wegen seiner Brutalität und Gewöhnlichkeit. Sämtliche Linksparteien in den hochentwickelten Industrieländern beruhen im Grunde auf einem Schwindel, weil ihre Tätigkeit darin besteht, gegen etwas zu kämpfen, das sie in Wahrheit gar nicht zerstören wollen. Ihre Ziele sind international, und gleichzeitig treten sie für die Aufrechterhaltung eines Lebensstandards ein, der mit diesen Zielen unvereinbar ist. Wir alle leben von der Ausplünderung asiatischer Kulis, wobei diejenigen, die »aufgeklärt« sind, die Befreiung aller Kulis fordern. Unser Lebensstandard jedoch und damit auch unsere »Aufgeklärtheit« hängen von einer fortgesetzten Ausplünderung ab. Human Gesinnte sind immer Heuchler. Daß Kipling dies begriff, ist vermutlich das Geheimnis seiner erstaunlichen Fähigkeit, Ausdrücke zu prägen, die den Nagel auf den Kopf treffen. Es dürfte schwer sein, den einäugigen englischen Pazifismus in weniger Worte zu fassen, als mit dem Satz »Uniformen zum Gespött machen, die uns im Schlaf bewachen«. Es stimmt, daß Kipling die ökonomische Seite der Verwandtschaft zwischen dem Intellektuellen und dem aufgeblasenen Hurra-Schreier nicht versteht. Er sieht nicht, daß die Weltkarte hauptsächlich deshalb rot gemalt werden muß, damit man den Kuli ausbeuten kann. Statt des Kulis sieht er den Angestellten der Indischen Zivilverwaltung. Aber auch auf dieser Ebene ist sein Verständnis für Funktionen, für das »Wer beschützt wen?« sehr vernünftig. Er sieht klar, daß Menschen nur dann einen hohen Grad von Zivilisation erreichen können, wenn andere, unvermeidlich weniger Zivilisierte, da sind, um sie zu beschützen und zu ernähren.
Wie weit identifiziert sich Kipling mit den Beamten, Soldaten und Ingenieuren, deren Loblied er singt? Nicht so vollständig, wie man oft annimmt. Er war jung schon weit herumgekommen, war hochbegabt, in einer im wesentlichen philiströsen Umgebung aufgewachsen, und er fühlte sich, wohl zum Teil aus neurotischen Gründen, mehr von Männern der Tat als von sensiblen angezogen. Die Indien-Engländer des 19. Jahrhunderts, um seine am wenigsten empfindsamen Idole zu nennen, waren auf jeden Fall Leute, die wirklich etwas leisteten. Es mag sein, daß alles, was sie durchführten, von Übel war, aber sie änderten das Antlitz der Erde (es ist aufschlußreich, sich die Landkarte Asiens anzusehen und das Eisenbahnnetz Indiens mit dem der angrenzenden Länder zu vergleichen). Dagegen hätten sie nichts erreicht und sich nicht eine Woche an der Macht halten können, wenn die normale Einstellung des Indien-Engländers die von, sagen wir, E. M. Forster gewesen wäre. Wie billig und schal sie auch sein mag, Kiplings literarische Schilderung von Britisch-Indien ist das einzige Zeugnis, das wir aus dem 19.
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