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Im Land der Freien

Im Land der Freien

Titel: Im Land der Freien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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der Beerdigung teilzunehmen. Sie stellte Masazumi vor die Alternative: Ich oder die Tote. Masazumi konnte sich ein weiteres Leben nicht vorstellen, ohne beim Begräbnis seiner Mutter anwesend zu sein. Seine Frau verließ ihn. Masazumi saß einen Tag lang heulend neben dem kleinen toten Körper. Er heulte aus mehreren Gründen, nicht zuletzt aus Verachtung für den gnadenlosen Vater.
    Im Sommer 1986 bot ihm die Citibank an, in New York zu arbeiten. So kam er nach Amerika. Der Tod seines Vaters, auf den er so lange gewartet hat, interessiert ihn heute nicht mehr. Sein Hass ist müde geworden und der Einsicht gewichen, dass manchen Vätern und Söhnen nicht zu helfen ist.
    Natürlich hat Masazumi Zeit für mich, auch während der Geschäftszeiten. In den letzten elf Jahren ist er bis zum Vice-President seines Geschäftsbereichs aufgestiegen. Er kümmert sich um die japanische Klientel in den Staaten. Er reist viel und muss jedem Gesprächspartner erfolgreich einreden, dass seine Bank mehr Profit abwirft als die Konkurrenz. Sein Soll für dieses Geschäftsjahr – schlanke 25 Millionen Dollar – haben seine Kunden der Bank bereits überlassen.
    » Greed is good «, zitiert Masazumi ironisch den Wall-Street-King vergangener Tage, Michael Milken, der im Gefängnis landete und der als bescheidener Mensch die Zelle verließ, um von nun an kleinlaut als Sozialarbeiter mit Vollbart seinen Unterhalt zu verdienen.
    »Was ist Glück?« wurde Freud einmal gefragt. Und der damals Dreiundsiebzigjährige antwortete: »Sich einen Kindertraum erfüllen.« Inzwischen weiß auch Masazumi, dass Geldscheffeln kein Kindertraum ist. Die Aussicht, noch zwanzig Jahre lang je 25 Millionen heranschaffen zu müssen, erschreckt ihn. Seit langem muss er die tägliche Angst loswerden, dass ein noch Gerissenerer als er auftaucht, dass es zu viele Banken geben wird, dass die Gegner noch weniger Schlaf brauchen als er selber.
    Wir gehen in den Dealing Room seiner Bank, er als Vizepräsident darf einen Wildfremden mitbringen. Das ist der Raum, wo gehandelt wird: Aktien, Warengeschäfte, Obligationen. Zweihundert Männer und Frauen vor Hunderten von Bildschirmen, ihre hungrigen Augen pausenlos auf der Suche nach einem Deal. Masazumi stellt mich ein paar seiner Kollegen vor. Das ist glatte Wirtschaftssabotage. Denn die wollen höflich sein und können nicht. So schauen sie in mein Gesicht und schielen gleichzeitig auf den Bildschirm, der unschätzbar hinreißender ist als ein Typ, der keinen Deal verspricht. Denn Sekunden entscheiden hier über Gewinn und Verlust, und der Schauder, diese Momente zu verpassen, peitscht sie zurück an ihre Schreibtische.
    Ich vermute, dass sich Masazumi in meiner Nähe wohlfühlt. Jemand, der keine Ahnung von Geld hat, versetzt ihn sicherlich in einen Zustand tiefster Entspannung. Zudem sind Ahnungslose wie ich ein dankbares Publikum. Sie holen noch Luft und staunen, wenn sie etwas erzählt bekommen, wo Insider nur blasiert mit dem Kopf nicken.
    Wir überqueren die Madison Avenue, auf der gegenüberliegenden Seite steht die St. Peter’s Church, seltsam geduckt unter einem anderen Wolkenkratzer, der ebenfalls zur Citibank gehört. Im Erdgeschoss gibt es ein hübsches Café, unser Ziel. Neben der Kirche steht ein kaputter Alter, an seinem Gürtel hängt ein Bauchladen voller Bleistifte, händeringend ruft er der vorbeiflutenden Welt zu: » For the grace of god buy a pencil .« Ich kaufe einen Bleistift für Masazumi und er beschenkt mich dafür mit einer umwerfenden Geschichte: Bevor die Bank zu bauen anfing, kaufte sie die bereits existierenden Häuser auf. Um sie abreißen zu lassen und Platz zu machen für den Neubau. Nur die Besitzer der Kirche wollten nicht verkaufen. Also kam es zu einer echt amerikanischen Lösung: Die Herren Pfarrer verkauften den »Luftraum« oberhalb der niedrigen Kirche. So steht das Kirchlein jetzt unter dem Teil eines Wolkenkratzers, der erst in 15 Meter Höhe beginnt.
    Das ist so eine Story, über die Naive hinterher noch tagelang kichern, von dem Raffinement gerührt, mit dem sie hier wachen Geschäftssinn, das Rentabilitätsprinzip und die Sorge um ihr Seelenheil unter einen Hut bringen. Der Herrgott im Schatten des einzig sichtbaren Gottes, des Geldes: Das ist ein kleiner Geniestreich. Bert Brecht fällt mir ein, erschöpft vermerkte er während seiner Exiljahre in Santa Monica: »Hinter jedem Baum vermutete ich ein Preisschild.« Armer B. B., für seine Phantasmen vom alles versöhnenden

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