Im Land der Freien
ansprang, ihr das soeben gezogene Geld entriss und – schon ein Häusereck weiter – im gestreckten Galopp das Weite suchte. Wir zwei wetzen hinterher. Ein dritter Passant, informiert von unseren Notrufen und dem Langfinger ganz nahe, stellt sich dem Dieb in den Weg. Tollkühn und vergebens. Denn die Fliehkraft des Flüchtigen ist rasanter als die Standfestigkeit des Tollkühnen. Auch der ist dick, aber nicht dick genug, um jetzt nicht gemeinsam mit dem augenblicklichen Geldbesitzer auf dem Trottoir zu landen. Nun liegt ein zweiter dicker Mensch am Boden. Der Dünne, unverdrossen mit einer Hand die Dollarnoten umklammernd, schnellt nach oben und läuft – von zwei Vollbremsungen begleitet – über den Broadway und biegt unaufhaltsam in die 114. Straße ein.
Als wir Sekunden später ankommen, ist niemand mehr zu sehen. Eine Polizeistreife hält jaulend neben uns. Nachdem wir den zwei dicken Bullen – nun sind vier Dicke in den Fall verwickelt – erklärt haben, dass wir die Verfolger sind und nicht die bad guys , suchen wir gemeinsam. Nichts. Dann hilft ein Zufall. Ich erinnere mich plötzlich, dass ich gestern in dieser Straße zwei Notizblöcke kaufte. Die banale Erinnerung blieb haften, denn das Schreibwarengeschäft lag in einem Keller, eine gusseiserne Wendeltreppe führte zu ihm hinunter. Ein paar Meter weiter sehe ich jetzt die Treppe, denke noch, das wäre ein gutes Versteck, schaue von oben hinunter, nobody , leer und still, das Geschäft noch verschlossen.
Und dann doch. Schon im Abwenden registriere ich eine winzige Bewegung. Der einzige Fehler des Gehetzten. Da seine Haut schwarz war wie das Dunkel, in dem er sich versteckte, hatte ich ihn nicht bemerkt. Warum er aus dem Schutz der Dachrinne trat, hinter der er sich versteckt hatte, ich werde es nie wissen. Ich rufe die beiden Dicken, routinemäßig wird er verfrachtet. Sie verlangen noch meine Adresse für weitere Zeugenaussagen. Ich hinterlasse falsche Angaben.
Beim Frühstück geht es mir schlecht. Ich habe plötzlich Gewissensbisse über meinen Eifer. Ein armer, dünner Kerl mit zerfetzter Hose und sechzig geklauten bucks . Geklaut aus den dicken Fingern einer Frau, die sicher das Geld weniger verzweifelt benötigte als er. Ich beschließe, beim nächsten Mal niemanden zu entdecken.
Ich packe, mit der Subway und dem Rucksack geht es zur 42. Straße. Auch die ließ der Bürgermeister abreißen, auch die soll fleckenlos und todsündenfrei werden. Komplette Häuserzeilen ehemaliger Sexshops, Pornokinos und klebriger Hotelzimmer wurden von der Betonbirne zertrümmert. Damit endlich Ruhe ist vor der Wollust, damit Platz wird für unsere wahren Sehnsüchte: Walt Disney Inc. klotzt gerade, riesige Einkaufspassagen wachsen. Ersatz – das deutsche Wort ist heute Teil der amerikanischen Sprache – scheint erotischer als das Original.
Zwischen der 6. und 7. Avenue steht ein Mann, den Albert Camus einen Helden des Absurden genannt hätte. » We sell golden diamonds «, ruft er den vorbeieilenden Fußgängern zu und versucht gleichzeitig, einen Stoß Waschzettel loszuwerden. Stuart ist Inhaber eines klassischen McJob. Seit sieben Jahren ruft er der Menschheit » We sell golden diamonds « zu. Wir reden und ich erfahre, dass er leidet. Das ist ein Fehler. Wer nicht über die Begabung verfügt, seinen IQ zu senken, den wird es jeden Tag acht Stunden lang in den Abgrund einer Depression reißen. Denn er wird nie vergessen können, dass er einmal für etwas anderes auf die Welt kam, als zwischen New Yorks 6. und 7. Avenue » We sell golden diamonds « zu blöken.
Da lobe ich mir Reverend Terence Cormack. Keine hundert Meter vor meinem Ziel, dem Port Authority Bus Terminal, hat er mich erwischt: beim Betrachten eines der letzten noch einsehbaren Schaufenster voller Werkzeuge und Apparaturen zur Maximierung der Lust und anderer Schweinigeleien. » You must be reborn again «, so donnert er mir mit seinem batteriegepufferten Lautsprecher in den Rücken. Ich drehe mich um und da steht er, einäugig, riesig, goldberingt, drohend und dreizackig lächelnd zugleich. Er gehört zu der attraktivsten Horde von Wahnsinnigen, die diese Stadt für alle Sünder bereithält: den ambulanten Seelsorgern und Freelance-Erlösungspredigern, die jeden in die Hölle fluchen, der sich ihren Erlösungstiraden verweigert. Ich weiß, was es geschlagen hat: Eine Taufe ist fällig. Ohne Wiedergeburt, mitten auf der 42. Straße um Schlag elf morgens, gibt es für mich kein Weiterleben
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