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Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Im Schwarm - Ansichten des Digitalen

Titel: Im Schwarm - Ansichten des Digitalen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Byung-Chul Han
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als Einbruch des Anderen die imaginäre Selbstbespiegelung. Die Positivität, die dem Digitalen innewohnt, reduziert die Möglichkeit einer solchen Erfahrung. Sie setzt das Gleiche fort. Das Smartphone wie das Digitale überhaupt schwächt die Fähigkeit, mit der Negativität umzugehen.
     
    Früher haben wir das Gegenüber, zum Beispiel das Bild, antlitzhafter oder blickhafter wahrgenommen als heute, nämlich als etwas, was mich anblickt, was in einer Eigenwüchsigkeit, in einer Autonomie oder in einem Eigenleben verharrt, was mir entgegenweilt oder entgegenlastet. Das Gegenüber besaß früher offenbar mehr Negativität, mehr Gegen als heute. Heute verschwindet immer mehr dieses antlitzhafte Gegenüber, das mich anblickt, angeht oder anweht. Früher gab es mehr Blick, durch den, wie Sartre sagt, sich der Andere ankündigt. Sartre bezieht den Blick nicht allein auf das menschliche Auge. Vielmehr erfährt er die Welt selbst als blickhaft. Der Andere als Blick ist überall. Die Dinge selbst blicken uns an: »Ohne Zweifel ist das Sichrichten zweier Augen auf mich dasjenige, was am häufigsten den Blick offenbart. Aber er würde ebenso gut gelegentlich eines Rascheins von Zweigen, eines von Stille gefolgten Geräuschs von Schritten, eines halb offenstehenden Fensterladens, der leichten Bewegung einer Gardine gegeben sein.« 16
     
    Die digitale Kommunikation ist eine blickarme Kommunikation. In einem Essay zum zehnten Jubiläum von Skype bemerkt der Autor: »Das Videotelefon schafft die Illusion der Anwesenheit und hat die räumliche Trennung zwischen Liebenden zweifellos erträglicher gemacht. Aber die Distanz, die bleibt, ist immer spürbar — am deutlichsten vielleicht an einer kleinen Verschiebung. Denn es ist beim Skypen nicht möglich, einander anzublicken. Wenn man dem Gesicht auf dem Bildschirm in die Augen sieht, glaubt der andere, man schaue leicht nach unten, weil die Kamera am oberen Rand des Computers installiert ist. Diese schöne Eigenart der unmittelbaren Begegnung, dass jemanden anzusehen immer gleichbedeutend ist, auch angesehen zu werden, ist einer Asymmetrie des Blickes gewichen. Dank Skype können wir uns nahe sein, 24 Stunden am Tag, aber wir schauen fortwährend aneinander vorbei.« 17 Schuld am Aneinander-Vorbeischauen-Müssen ist nicht allein die Kameraoptik. Es verweist vielmehr auf den grundsätzlich fehlenden Blick, auf den abwesenden Anderen. Das digitale Medium entfernt uns immer mehr vom Anderen.
     
    Der Blick ist auch eine zentrale Kategorie der Bildtheorie von Jacques Lacan: »Im Bild manifestiert sich mit Sicherheit immer ein Blickhaftes.« 18 Der Blick ist der Andere im Bild, der mich anblickt, ergreift und fasziniert. Er ist das punctum, das das homogene Gewebe des Studiums zerreißt. Als Blick des Anderen opponiert er gegen das Auge, das sich am Bild weidet. Er durchlöchert die Augenweide und stellt meine Freiheit infrage. Die zunehmende Narzissifizierung der Wahrnehmung bringt den Blick, den Anderen zum Verschwinden.
    Das Herumtippen auf dem Touchscreen ist eine Bewegung, die eine Konsequenz hat im Verhältnis zum Anderen. Es beseitigt jene Distanz, die den Anderen in seiner Andersheit konstituiert. Man kann deshalb auf das Bild tippen, es direkt berühren, weil es bereits den Blick, das Antlitz verloren hat. Mit dem Pinzettengriff verfüge ich über den Anderen. Wir tippen den Anderen weg, um dort unser Spiegelbild erscheinen zu lassen. Lacan würde sagen, dass der Touchscreen sich vom Bild als Schirm (ecran) unterscheidet, der mich vom Blick des Anderen gleichzeitig abschirmt und ihn durchscheinen lässt. Den Touchscreen des Smartphones könnte man den transparenten Schirm nennen. Er ist ohne Blick.
     
    Ein transparentes Antlitz gibt es nicht. Das Antlitz, das man begehrt, ist immer opak. Opak heißt wörtlich beschattet. Diese Negativität des Schattens ist konstitutiv für das Begehren. Der transparente Schirm lässt kein Begehren zu, das immer das Begehren des Anderen ist. Gerade da, wo der Schatten ist, ist auch der Glanz vorhanden. Schatten und Glanz bewohnen denselben Raum. Sie sind Orte des Begehrens. Das Transparente glänzt nicht. Der Glanz entsteht dort, wo das Licht sich bricht. Wo es keine Brechung, keine Gebrochenheit gibt, findet kein Eros, kein Begehren statt. Das gleichmäßige, glatte, transparente Licht ist kein Medium des Begehrens.
    Die Transparenz bedeutet das Ende des Begehrens.
     
    Leonardo da Vinci soll zu einem verhüllten Portrait bemerkt haben:

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