Der Gesang des Wasserfalls
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Prolog
Guyana, Südamerika, 1979
D er Kameramann schaute aus dem ovalen Fenster auf die treibenden Nebelschwaden unter dem Islander-Flugzeug. Zwischen den Wolken eröffnete sich ein fast beängstigender Blick auf den dichten, schier endlosen Urwald, der in allen Richtungen Berge und Täler bedeckte. Eine halbe Stunde nach dem Start waren die Gespräche in der kleinen Maschine verstummt. Es war zu anstrengend, sich über das Dröhnen der beiden Motoren hinweg zu unterhalten, und so blieben die vier Passagiere ihren Gedanken überlassen. »Brokkoli«, dachte Venti schließlich. Der Kameramann hatte seit zehn Minuten nach einem Wort gesucht, das diesen sich bis ins Unendliche erstreckenden Dschungelbaldachin beschreiben würde. »Ja, das ist es, so eng zusammengedrängt wie die Rosetten einer frischen Brokkolistaude. Wenn wir hier abstürzen, wird man uns in hundert Jahren nicht finden.«
Ähnliche Gedanken gingen auch den beiden anderen Passagieren durch den Kopf. Nur der vierte, Sir Gavin Rutherford, Naturwissenschaftler von der Universität Bristol, vom Akademiker zur Fernsehberühmtheit aufgestiegen, wirkte unbeeindruckt. Er lehnte sich zurück, strich über seinen silbergrauen Schnurrbart und schloss entspannt und zuversichtlich die Augen. Edwina, die Produzentin, lenkte sich durch das Blättern in einer zerfledderten Zeitschrift ab. Während der zwei Jahre, die sie nun schon mit dem Team von Planet Erde unterwegs war, hatte sie einige haarsträubende Reisen mitgemacht, um an die verschiedensten Drehorte zu gelangen, von der Mojave-Wüste bis zu den Galapagos-Inseln, vom indischen Subkontinent bis nach Surrey. Und jetzt Guyana.
Was als von dem angesehenen Sir Gavin kommentierte Lehrfilmreihe über das Tier- und Pflanzenreich dieser Erde begonnen hatte, hatte sich zur Überraschung aller BBC -Leute in einen unerwarteten Einschaltquoten-Renner verwandelt. Sir Gavins Begeisterung und sein profundes Wissen hatten ihn, verbunden mit einem Schuss liebenswürdigen Charmes, von einem Kommentator aus dem Off mit nur kurzen Auftritten am Anfang und Ende der Sendung mehr und mehr zu einem voll integrierten Entdecker werden lassen, der in fast jeder Szene zu sehen war.
Die Zuschauer sahen ihn hinter Elefanten herschleichen, aus einem Baumversteck Löwen beim Beuteschlagen beobachten, in einem schwankenden Schlauchboot nahe an einen kalbenden Wal heranfahren, einen Ast hochheben, um eine schimmernde Schlange freizulegen oder unter seinem zum Markenzeichen gewordenen Safarihut hervorblinzeln und einer Venusfliegenfalle beim Einfangen eines Insekts zuschauen. Und die in atemloser Erregung über das Beobachtete leise eingestreuten Erklärungen wirkten atemberaubend und fesselnd auf die Zuschauer, die seine Abenteuer in der Geborgenheit ihres Wohnzimmers miterlebten.
Der Toningenieur, genannt Hase, als Kurzform für Hasenohr oder, weniger freundlich, schwerhöriges Hasenohr, weil er nur zuhörte, wenn er seine gepolsterten Kopfhörer übergestülpt hatte, versuchte, die Beine auszustrecken und fragte sich, ob der Pilot möglicherweise irgendwelche Gepäcksstücke auf sein Richtmikrophon hatte fallen lassen. Es hatte ihm gar nicht gepasst, wie achtlos ihre Ausrüstung in den Frachtraum des Flugzeugs geworfen worden war. Das beiläufige Wiegen von Passagieren und Fracht war sehr nachlässig geschehen, und er hoffte nur, dass der Pilot beim Navigieren und Landen mehr Sorgfalt zeigen würde als bei den Flugvorbereitungen. An die Wartung des Flugzeugs wollte er gar nicht erst denken.
Die ganze Expedition kam ihm für nur zwei kurze Einstellungen mit dem Kommentator im Bild reichlich übertrieben vor. Die Szene, in der Sir Gavin in einem Einbaum durch einen schwimmenden Teppich von Victoria-Regina-Seerosen paddelte, war bequemerweise im Botanischen Garten von Georgetown aufgenommen worden, und jetzt dieser verdammte Treck zu irgendeinem Wasserfall, um einen Frosch zu finden. Hoffentlich befand sich dieser Frosch nicht zu nahe beim Wasserfall, sonst würde Sir Gavins Gequatsche völlig übertönt werden.
Neben ihm schaute der Kameramann immer noch auf den Dschungel hinab, durch den sich jetzt in braunen Schlingen ein breiter, sehr viel Wasser führender Fluss wand. Die weißen Flecken im Fluss deutete er als Stromschnellen. Hier und da gab es Anzeichen dafür, dass Goldsucher ganze Teile der Uferböschung abgetragen und ausgewaschen und so dem kaffeebraunen Wasser noch mehr Schlamm hinzugefügt hatten. An manchen Stellen
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