Im Totengarten (German Edition)
Wellen schlug. »Es gibt nicht den geringsten Zweifel, dass sein Samen in ihr war, weshalb er – schwuppdiwupp – auch einstimmig schuldig gesprochen worden ist.«
»Gab es auch noch andere Beweise?«
»Er war ihr letzter Freier.« Burns sah mich an, ohne eine Miene zu verziehen, wie es Lügner häufig tun. »Glauben Sie mir, er war’s.«
»Na dann.« Ich hielt seinem Blick so lange stand, bis er die Augen von mir abwandte.
»Okay, die Kriminaltechnik hat nichts weiter gefunden, aber Cley hatte kein Alibi, nichts, um sich zu verteidigen.«
»Und das hieß, dass er schuldig war?«
»Bei allem gebührenden Respekt, Dr. Quentin, das ist alles Jahre her. Alles, was mich jetzt noch interessiert, ist, wie gründlich ich den Kerl bewachen lassen muss, wenn er morgen entlassen wird.«
»Damit Sie es mir anlasten können, falls er noch mal einen Mord begeht.«
Ich wusste nicht genau, ob das Zucken seines kleinen Mundes ein Zeichen von Erheiterung oder von Ärger war.
»Basierend auf einer dreißigminütigen Beobachtung würde ich sagen, dass er Lernprobleme und die geistigen Fähigkeiten eines Sieben- bis Achtjährigen hat. Möglicherweise ist er klinisch depressiv, und er trauert noch immer um seine Mutter, aber nein, ich glaube nicht, dass er eine unmittelbare Gefahr für jemanden ist.«
»Sind Sie sicher?«
»Außer für sich selbst, wenn er erkennt, dass sich niemand um ihn kümmern wird.«
»Mir blutet das Herz.« Burns atmete tief durch und rappelte sich mühsam von seinem Stuhl auf.
Es war zwölf Uhr dreißig, bis wir wieder auf dem Parkplatz unterhalb des Krankenhauses waren. Ich löste meinen Gurt, und Burns lenkte den Blick aus seinen Schweinsäuglein erneut auf mich.
»Ich werde Sie in Zukunft öfter engagieren, Dr. Quentin.«
»Und warum?«
»Sie reden nicht lange um den heißen Brei herum.«
»Ich nehme an, das soll ein Kompliment sein, Inspektor.«
»Allerdings. Letztes Jahr hatten wir so ein hohes Tier aus der Psychiatrie in Maudsley, das die ganze Zeit versucht hat, uns mit seinem Fachchinesisch und all dem, was es anscheinend in der Birne hatte, zu beeindrucken.« Er verzog den Mund, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte, und ich sah seinem Mondeo hinterher, der auf die Straße schoss, als wäre der Mann hinter dem Steuer ein Athlet auf dem Höhepunkt der körperlichen Leistungskraft.
An diesem Nachmittag hatte ich drei Patienten. Einer kam zum Antiaggressionstraining, ein Agoraphobiker sowie ein Mädchen namens Laura mit einer derart fortgeschrittenen Anorexie, dass ich sie gleich im Krankenhaus behalten wollte, doch es gab mal wieder nirgends freie Betten. Sechs verschiedene Stationen weigerten sich, mir zu helfen, bis ich endlich eine Schwester fand, die mir zusagte, am nächsten Tag ein Bett für die Patientin frei zu halten, sollte sie bis dahin nicht bereits woanders eingeliefert worden sein. Nach diesem Gespräch rief ich noch meine E-Mails ab. Hundertdreiundsechzig Nachrichten, die ausnahmslos nach einer Antwort schrien. Selbst wenn ich bis Mitternacht an meinem Schreibtisch sitzen könnte, würde ich es nicht schaffen.
Um sieben tauschte ich den Rock und meine Pumps gegen meine Laufklamotten ein und begann den besten Teil des Tages. Bald schon rannte ich so schnell durchs Treppenhaus in Richtung Erdgeschoss, dass ich das Gefühl hatte, zu fliegen, aber als ich auf die Straße trat, war dort die Luft so kalt, dass sie mir regelrecht den Atem nahm. Angestellte auf dem Weg zur U-Bahn stopften sich die Hände in die Taschen und stapften mit hochgezogenen Schultern durch die Dunkelheit. Langsam trottete ich los, doch kaum hatte ich den Uferpfad erreicht, löste sich der Stress des Tages auf. In Höhe der HMS Belfast beschleunigte ich mein Tempo, und mir ging zum x-ten Mal die Frage durch den Kopf, weshalb überhaupt jemals jemand an Bord des Schiffes ging. Die Plakate zeigten bereits viel zu viel von den engen Unterkünften mit den Pritschen, die nicht breiter als die Körper der Matrosen waren. Bereits zehn Sekunden unter Deck des Schiffes würden reichen, damit meine Klaustrophobie die Oberhand gewann.
Ich lief in Intervallen, joggte immer hundert Meter, verfiel danach jeweils in einen Sprint, bis meine Lungen brannten, und kam so an riesengroßen, alten Lagerhallen, die in teure Restaurants verwandelt worden waren, vorbei, bis ich nach einer guten Viertelstunde an der China Wharf an einem Geländer stehen blieb, bis mein Atem wieder etwas ruhiger ging. Die Lichter der
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