Blutflecken (Ein Lucy-Guardino-Thriller) (German Edition)
Prolog
Die Frau eines Wirtschaftsprüfers aus Lawrence, Kansas, fror ständig. Sommers wie winters trug sie langärmlige Kleidung und wickelte Seidentücher um ihren Hals. Insgeheim hatte er sich schon manchmal gefragt, ob sie sich noch immer wegen der Narben genierte, die von dem Autounfall stammten, bei dem sie beinahe ums Leben gekommen wäre.
Der Unfall passierte, kurz nachdem sich die beiden im College kennengelernt hatten. Als sie plötzlich ohne ein Wort für drei Wochen verschwand, ärgerte er sich, dass sie nicht den Mut besaß, die Beziehung von Angesicht zu Angesicht zu beenden. Gleichzeitig fragte er sich mindestens ebenso besorgt, ob er vielleicht etwas falsch gemacht und sie verjagt hatte.
Im ersten Jahr auf dem College, zum ersten Mal weg von zu Hause, berauschte ihn der nie zuvor gekannte Geschmack der Unabhängigkeit. Dennoch erschreckte ihn die Vorstellung, der Zukunft allein ins Gesicht blicken zu müssen. Dann kam sie zurück, und ihre Leidenschaft entfachte sich stärker als jemals zuvor. Drei Monate später heirateten sie. Fünf Monate später kam das Baby zur Welt – ein Skandal für jeden, der sich die Mühe machte, nachzurechnen. Aber da es eine Frühgeburt und das Baby so winzig klein war, dankte er Gott für ein Wunder.
Das Leben war gut. Seine Frau eröffnete ein Antiquitätengeschäft, und es bereitete ihm enorme Freude, sie mit Seidenhalstüchern zu verwöhnen, immer dann, wenn er eines entdeckte, das ihrer Schönheit ebenbürtig war.
Die Nächte gestalteten sich hin und wieder schwierig. Sie schrie im Schlaf und schlug auf ihn ein, als sei er ein Eindringling. Er hielt sie dann fest umschlungen, bis sie sich wieder beruhigte. In solchen Nächten starrte er in die Dunkelheit und traute sich nicht, den Vorhang vor ihrem angeblich so perfekten Leben zu lüften. Gegen das Misstrauen, das vereinzelt in seine Gedanken sickerte, konnte er sich allerdings nicht wehren.
Was war das für ein Autounfall gewesen, der solche Narben hinterließ? Und das Kind? Seine Großtante, die mit ihren tattrigen vierundneunzig Jahren kein verdammtes Blatt mehr vor den Mund nahm, behauptete, es habe den »bösen Blick« und sei von »schlechtem Blut«. Und wirklich, warum starrte das Kind sie beide manchmal so unverwandt an, als seien sie nicht seine Eltern oder Mitmenschen, sondern lediglich Spielzeuge?
An manchen Abenden, kurz bevor ihn der Schlaf übermannte, konnte er eine ketzerische Stimme flüstern hören: Ist das Kind wirklich von dir?
Doch wenn ihn dann am Morgen der Geruch von Kaffee und Pfannkuchen weckte, verschwanden sämtliche Zweifel, und er war dankbar, so ein perfektes Leben mit einer perfekten Frau und einem perfekten Kind führen zu dürfen.
Bis man ihnen das Kind raubte. Ihre kleine Morgan. Gerade einmal elf Jahre war sie alt. Einfach verschwunden. Laut Augenzeugen war Morgan mit einem Jungen mitgegangen, der nur ein bisschen älter, aber viel größer als sie war. Die örtliche Polizei suchte nach ihr. Die Polizei des Bundesstaates Kansas suchte nach ihr. Das FBI schaltete sich ein. Man druckte ihr Foto sogar auf Milchtüten. Ein Privatdetektiv fraß sich durch ihre gesamten Ersparnisse, lieferte aber weder Antworten noch Trost. Schließlich war genug Zeit verstrichen, dass sie es sich erlaubten, die Hoffnung aufzugeben und die Trauer anzunehmen.
Als er in jener Nacht seine Frau umarmte, sah er in ihrem Gesicht weder Kummer noch Verzweiflung. Stattdessen spiegelte es dieselbe Erleichterung wider, die auch ihm ins Gesicht geschrieben stand. Sie schliefen so friedlich wie niemals zuvor. Am nächsten Morgen erwachten sie und setzten ihr perfektes Leben fort.
Das war vor zwei Jahren …
Kapitel 1
Mit Situationen, in denen es um Leben oder Tod ging, kannte sich FBI-Spezialagentin Lucy Guardino zur Genüge aus. Gangs, Menschenhändler, einheimischer Terrorismus, Geiselnehmer, Sexualstraftäter, Serienmörder. Damit konnte sie umgehen.
Aber jetzt, da sie der Einheit zur Bekämpfung von Sexualverbrechen des FBI-Regionalbüros in Pittsburgh vorstand, musste sie sich mit bedrohlicheren Herausforderungen auseinandersetzen. Zum Beispiel mit den täglichen Zwistigkeiten in einer behördenübergreifenden Truppe, deren Dynamik von viel Adrenalin, einem Überschuss an Egos und einem Mangel an Geduld charakterisiert war. Der Papierkram auf ihrem Schreibtisch war zu einem solchen Berg angewachsen, dass das zuoberst liegende Blatt sie direkt enthaupten würde, wenn sie sich zu weit nach vorn
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