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Im Totengarten (German Edition)

Im Totengarten (German Edition)

Titel: Im Totengarten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Rhodes
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Alice?« Er sprach weiter, doch ich drehte ihm schon wieder den Rücken zu, und einen Moment später fiel die Tür des Zimmers leise hinter ihm ins Schloss.
    Das Geräusch erschreckte Will, und während eines Augenblicks wurde sein Blick so klar, als fixierte er durch ein Teleskop einen ganz bestimmten Punkt.
    »Kannst du sie sehen, Al?«, wisperte er.
    »Wen, Schätzchen?«
    »Draußen.« Lächelnd zeigte er aufs Fenster. »Es sind Dutzende.«
    Ich spähte durch das Glas, doch außer einem Teil der Leichenhalle sowie einem Stückchen grauen Winterhimmels war dort nichts zu sehen.
    Ich berührte seinen Handrücken. »Es ist alles gut. Da draußen ist nichts, worüber du dir Sorgen machen musst.«
    Er riss die Augen auf. »Die Engel sind zurückgekommen, Al. Mach das Fenster auf.«
    »Ich will nicht, dass du dich erkältest.«
    »Lass sie rein.« Seine Stimme wurde schrill, also schob ich das Glas ein Stückchen auf. Sofort spürte ich den eisigen Luftzug im Gesicht, aber er rief: »Weiter!«, und streckte begehrlich seine Arme aus.
    Auch sein Gesichtsausdruck hatte sich plötzlich vollkommen verändert, und er wirkte regelrecht verzückt. Erwartungsvoll und startbereit, als flöge er im nächsten Augenblick davon. Tränen trübten meine Sicht, doch zum Glück stand neben seinem Bett eine Packung Kleenex, und ich fuhr mir eilig mit einem der Tücher durchs Gesicht. Dann trat ich in den Flur hinaus, ohne mich noch einmal umzudrehen. Dabei hatte ich im Verlauf der Jahre zahllose Patienten mit Wahnvorstellungen gehabt: einen Mann, der dachte, er wäre John Lennon, einen Rentner, der eines Morgens mit der festen Überzeugung aufgewacht war, eine völlig Fremde hätte seine Ehefrau neben ihm in seinem Bett ersetzt, und ein junges Mädchen, das sich für so hässlich hielt, dass es dachte, die Menschen auf der Straße liefen vor Entsetzen weg, wenn sie sie sähen. Aber es war etwas völlig anderes, wenn es jemanden betraf, dem man eng verbunden war. Dann war es wie ein Todesfall, nur dass offene Trauer nicht gestattet war.
    Draußen im Korridor saß Burns. Er versuchte gar nicht, aufzustehen, denn er hob sich seine Energie lieber für Wichtigeres auf. Hinter seiner Zimmertür begann Will, zu heulen wie ein Wolf. Vielleicht setzte ihm die Erkenntnis, dass er doch nicht einfach aus dem Fenster fliegen und dann sanft über die Hausdächer und Bäume segeln konnte, derart zu. Sofort lief eine Krankenschwester los, um nach ihm zu sehen.
    »Er wollte anscheinend nicht, dass Sie schon wieder gehen«, bemerkte Burns.
    »Ich glaube, er hat nicht mal wirklich mitbekommen, dass ich da war.«
    »Haben Sie irgendwas aus ihm herausgekriegt?« Er sah mich so durchdringend durch seine dicken Brillengläser hindurch an, als hielte ich lebenswichtige Informationen zurück.
    »Kein Wort.« Ich schüttelte den Kopf. »Er macht gerade eine psychotische Phase durch, Don. Vielleicht wurde sie durch die Schmerzen ausgelöst, vielleicht aber auch durch das erlittene Trauma oder durch die Drogen, die er eingeworfen hat.«
    »Und wie lange wird diese Phase dauern?«
    »Das kann niemand sagen. Vielleicht nur ein paar Tage, vielleicht aber auch Monate. Manche Menschen erholen sich auch nie von einer durch Drogen ausgelösten Psychose, sondern machen eine dauerhafte Persönlichkeitsveränderung durch. Wie zum Beispiel Syd Barrett von Pink Floyd.«
    »Jesus, Maria und Josef.« Burns setzte verzweifelt seine Brille ab.
    »Und da wäre noch was, Don, in Zusammenhang mit der verschwundenen jungen Frau.«
    Burns riss seine Äuglein wieder auf. »Michelle Yeats.«
    »Ich habe sie Freitagnacht gesehen.«
    »Wieso denn das?« Er wirkte so verblüfft, als hätte sich ihm eine völlig neue Seite meiner Persönlichkeit enthüllt. Doch er wirkte so erschöpft, dass ich ihm nur das Allernötigste verriet.
    »Ich war ihr vorher schon mal begegnet, als ich laufen war. Und dann habe ich sie Freitagnacht noch mal gesehen, nachdem Will hier eingeliefert worden war.«
    »Haben Sie auch mit ihr gesprochen?«
    Ich nickte knapp. »Und ich habe ihr ein bisschen Geld gegeben, damit sie sicher nach Hause kommt.«
    »Gott Allmächtiger.« Er stieß ein lautes Stöhnen aus. »Wenn man einem Junkie Kohle gibt, fährt er bestimmt nicht einfach nach Hause und kocht sich einen Kakao, Alice. Dann zieht er erst mal los und besorgt sich das nächste Tütchen Crack.«
    Burns sah aus, als wollte er mir einen Vortrag über den korrekten Umgang mit Drogenabhängigen halten, als ein lauter

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