Im Zeichen des Adlers
selbst. Ich zwinge dich zu nichts - du bist aus freien Stücken hergekommen, und ebenso bleibt es dir überlassen, zu gehen, wann immer du willst. Mir bleibt nur, dir zu sagen, daß deine Lehre noch nicht beendet ist. Und alles, was du in den vergangenen Wochen auf dich genommen hast, könnte vergebens gewesen sein, wenn du jetzt gehst. Du hast den Wolf bislang nur bezähmt - aber noch lange nicht besiegt.«
»Ich - ich ... komme wieder.« Die zögernden Worte des Mannes klangen nach einem Versprechen.
»Du wirst mir willkommen sein«, sagte Chiyoda. »Doch bedenke, daß wir dann wieder von vorne werden beginnen müssen. Und bedenke, was in der Zwischenzeit wieder geschehen wird: all das, was du verabscheust und weswegen du zu mir gekommen bist.«
Der andere senkte den Blick, sah auf seine Fußspitzen und dann so hastig wieder hoch, als würden sogar seine Schuhe ihm Grauen einflößen.
»Ich weiß«, sagte er kaum hörbar, »das Töten . Ich will, daß es aufhört. Ich ertrage es nicht länger, in den Nächten des hellsten Mondes morden zu müssen -«
»Dann bleib«, unterbrach Chiyoda ihn, »und es wird ein Ende haben. Ich weiß, daß du es schaffen kannst, dem Bösen zu entsagen. Bei keinem anderen sonst spürte ich dieses Talent in solchem Maße wie bei dir.«
Sein Gegenüber hob den Kopf. Seine Züge waren verkniffen, aber es sprach auch eine fast spürbare Entschlossenheit daraus, vor der Chiyoda kapitulieren mußte.
»Ich muß gehen«, sagte der andere. »Jetzt!«
Sein Blick schweifte zum Horizont, wo nachtschwarze Berge wie eine natürliche Grenze um Chiyodas Reich lagen. Tatsächlich aber mochte der Mann etwas ganz anderes sehen - jenes Ziel, das er sich gesetzt und von dem er Chiyoda erzählt hatte.
»Und ich werde zurückkehren - aber nicht allein«, fügte er dann noch hinzu, mit dunklerer Stimme als zuvor.
»Du hast dir eine große Aufgabe gestellt«, meinte Chiyoda. »Ein Mann könnte daran zerbrechen.«
Der andere lächelte knapp und freudlos.
»Möge der Wolf mir dabei helfen«, hoffte er und fuhr fort: »Verstehst du nun, warum ich jetzt aufbrechen muß? Ich brauche das Tier in mir - noch .«
Chiyoda nickte nicht, starrte den anderen nur ausdruckslos an und sagte: »Dann geh.«
»Auf Wiedersehen, Meister.«
Die Worte waren keine bloße Grußformel - sie kamen einem Schwur gleich, so feierlich sprach der andere sie aus.
Dann wandte er sich ab und ging - so schwerfällig, als laste das Alter seines Fluchs als wirkliches Gewicht auf ihm - hinaus in die mondhelle Nacht. Um irgendwann dort anzukommen, wo seine Heimat lag. Weit entfernt, auf der anderen Seite dieser Welt.
Und Chiyoda wußte, daß seinem Schüler nicht nur ein langer, sondern vor allem auch beschwerlicher Weg bevorstand .
*
Das alte Kloster in der Mandschurei war ein Ort der Ruhe und des Friedens - - in den Nächten, da der Mond sich nicht zur Gänze am Himmel zeigte .
In Nächten wie dieser aber war Chiyodas Refugium ein Ort des Grauens! Erfüllt von schaurigen Lauten und Dingen, die unsichtbar, aber doch wie zum Greifen in der Luft lagen.
Chiyoda jedoch schien das nicht einmal wahrzunehmen. Furchtlos schritt er durch die kaum erhellten Korridore, vorbei an dicken Bohlentüren, hinter denen Monstren sich wie irr gebärdeten, und auch das Wehklagen und das Flehen um Hilfe rührten ihn nicht.
Wer zu ihm kam, dem erklärte Chiyoda vor Beginn der Lehren, worauf er sich einließ. In der Folge tat er dann nichts anderes, als seinen Schülern den Weg zur Erlösung zu weisen - gehen mußten sie ihn allein. Weil auch später, wenn sie ihres Fluches einmal Herr geworden waren, niemand an ihrer Seite sein würde, der ihnen half.
In Vollmondnächten sperrte Chiyoda seine Gäste in Zellen, zu ihrem eigenen Schutz - und zu seinem persönlichen. Denn er hielt es nicht für ausgeschlossen, daß sie in Bestiengestalt über ihn herfallen würden, um zu verhindern, daß er sie weiterhin darin unterwies, wie das werwölfische Ego zu unterdrücken war. Und an Kraft und Ungestüm mochten die jungen Werwölfe Chiyoda durchaus überlegen sein! Das Alter hatte ihm beides aufgezehrt, denn im Gegensatz zur vampirischen Rasse war ein Werwolf nicht unsterblich, und seine Kraft wuchs nicht mit der Erfahrung eines langen Lebens: Wer-wölfe mußten den Jahren Tribut zollen - ganz so wie Menschen.
Letztlich sind und bleiben wir Menschen, sinnierte der Alte, während er dem Sanktuarium zustrebte, ohne sonderliche Eile. Nur in der hellsten Mondphase
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