Immortals after Dark 02 - Kuss der Finsternis
genug war, ein hölzernes Schwert zu halten, wurde er für den Kriegsdienst ausgebildet, und dennoch war Sebastians Verstand das Stärkste an ihm. Er hatte wissenschaftliche Abhandlungen und Traktate verfasst, die einige der größten Denker jener Zeit auf ihn aufmerksam werden ließe n …
„Du hast etwas gesehen“, sagte Myst und riss Nikolai damit aus seinen Gedankengängen.
„Ich kann euch sagen, wo Murdoch ist.“
„Ich habe ihn erst gestern getroffen“, stieß Nikolai mit rauer Stimme hervor. Murdoch lebte in Mount Oblak, einem Schloss, das sie von der Horde erobert hatten. Es war das neue Hauptquartier der Devianten, darum suchte Nikolai es fast jeden Tag auf.
„Oh ja. Natürlich“, begann Nïx in sarkastischem Tonfall. „Murdoch befindet sich immer noch genau an derselben Stelle, wo du ihn verlassen hast.“
„Was soll das heißen?“ Doch sie blickte ihn nur mit ausdruckslosen Augen an. „Über Murdoch. Was hast du damit gemeint?“
„Habe ich etwas gesagt? Was habe ich denn gesagt? Wie soll ich mir denn bloß alles merken, was ich sage?“
Er begann die Geduld zu verlieren. „Verdammt noch mal, Nïx, ich weiß, dass du uns sagen kannst, wo sie sind.“
Sie riss die Augen weit auf. „ Kannst du denn auch hellsehen? “, hauchte sie.
Manchmal hasste er seine angeheiratete Familie wirklich von ganzem Herzen.
„Nïx, ich brauche unbedingt deine Hilfe“, stieß er hervor. Als ehemaliger General der estländischen Armee und augenblicklicher General der Devianten war er es gewohnt, Befehle zu erteilen, die dann eifrigst befolgt wurden. Diese s … dieses Bitten und Betteln war unerträglich.
Doch im Augenblick konzentrierte sich Nïx ausschließlich auf ihre Bastelei, bis sie etwas vollendet hatte, das wie ein Feuer aussa h – eine wilde Masse ineinander verschlungener und verwobener Flammen. Behutsam stellte sie das Gebilde neben die anderen beiden. Wieder wurden Seiten aus dem Buch gerissen, die sie nun sogar mit noch größerer Geschwindigkeit faltete. Nikolai stellte verblüfft fest, dass er seine Aufmerksamkeit kaum von den kleinen Kunstwerken zu lösen vermochte, die sie wie unter Zwang herstellte.
Nur wenige Augenblicke später hatte sie einen Papierwolf hergestellt, der mit zurückgelegtem Kopf ein Heulen auszustoßen schien. Jetzt befanden sich auf dem Tischchen vier Figuren, so aufgestellt, als ob sie mit ihnen eine Geschichte erzählen wollte. Myst schenkte ihnen nur einen flüchtigen Blick, doch Nikolai war wie verzaubert.
„Nïx, jetzt streng dich ein bisschen an!“, fuhr Myst sie an. Nikolai schüttelte sich und zwang sich, woanders hinzuschauen.
„Ich kann Conrad nicht sehen!“, fauchte Nïx zurück. Ein Blitz schlug ganz in der Nähe ein.
„Was ist mit Sebastian?“, fragte Myst. „Mach schon, sag alles, was du siehst.“
„Alles? Also, was weiß ich?“ Nïx runzelte die Stirn. „Was weiß ich? Oh! Jetzt weiß ich, was ich weiß!“
Nikolai lief ungeduldig auf und ab und signalisierte ihr mit einer Hand fortzufahren.
Sie zuckte mit den Schultern. „In ebendiesem Augenblick schreit dein Bruder Sebastian jemanden an, der sich außerhalb eines Schlosses befindet. Er verlangt, dass diese Person zu ihm zurückkehren solle, wünscht es sich mit jeder Faser seines Wesens.“ Sie lächelte und war scheinbar überaus zufrieden mit sich, dass sie so viel gesehen hatte. Dann klatschte sie in die Hände. „Oh! Gerade hat seine Haut Feuer gefangen!“
5
Warum sollte sie vor mir fliehen?
Immer und immer wieder stellte sich Sebastian in Gedanken diese quälende Frage, während er durch den strömenden Regen und die Pfützen auf der Hauptstraße des verlassenen Dorfes schlurfte.
Der Regen hatte bei Sonnenuntergang begonnen, gerade als er sich auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Selbst jetzt noch, Stunden später, prasselte er mit aller Gewalt auf die Erde hinab, sodass der Mörtel aus den Fugen der Pflastersteine gesprengt wurde. Der Regen peitschte sein verbranntes Gesicht und seine Hände, aber Sebastian nahm es kaum wahr.
Was zum Teufel war passiert? Eben noch hatte er gefühlt, wie der jahrhundertealte Überdruss von ihm abfiel, mit ihrer Ankunft einfach verschwand. Jetzt war er mit doppelter Macht zurückgekehrt.
„Nicht!“, hatte er hinter ihr hergebrüllt. Bevor er gezwungen war, sich zurückzutranslozieren, hatte sie sich zu ihm umgedreht, mit weit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund. Sie hatte seinen Schmerz gesehen, hatte gesehen, wie seine Haut
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