In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
er als Clanführer vermasselt hatte.
In solchen Nächten drückte er sich jedesmal an seine weiche, leise schnarchend zusammengerollte Frau Allie; denn die war verläßlicher als sein eigenes unruhiges Blut. Dann versuchte er, sich wieder in Schlaf zu wiegen, doch seine Träume handelten nach wie vor von Ketten, Glied an Glied, die sich über die Weiten der Meere spannten.
In der High-School war Allie Gordon nie das beliebteste Mädchen ihrer Klasse gewesen. Davon konnte wirklich keine Rede sein. Diese Ehre gebührte Verona MacBean mit ihrem Zuckerwattehaar, ihrer ›Cover Girl‹-Schminke und ihrem rosa Mohairsweater, der sich wie eine zweite Haut um jenen Körperteil schmiegte, den die Jungs als Gipfel der Appalachen bezeichneten.
Und heute, nach fünfzehn Jahren im Nirgendwo, war Verona MacBean persönlich ins Glory in the Flower getreten, um drei große Blumengestecke für ein Essen in der Bücherei zu ordern, das ihr zu Ehren gegeben werden sollte.
»Verona!« Der Name war Allie augenblicklich wieder eingefallen. Irgendwie irritierte es sie, ihre Klassenkameradin in ein konservatives beiges Kostüm gekleidet zu sehen, mit zu einem Dutt zurückgekämmten Haaren und einer flächendeckenden Grundierung auf den ebenen Wangen. »Was verschlägt dich denn hierher?«
Verona hatte leise mit den Backenzähnen geklickt. »Allie«, hatte sie gewispert, und ihre Stimme war genauso dünn und hauchig wie seinerzeit in der High-School, »erzähl mir nicht, daß du immer noch hier wohnst!«
Das war nicht als Beleidigung gemeint, das war es nie, deshalb zuckte Allie nur mit den Achseln. »Na ja«, sagte sie und dehnte dabei die Worte, um sie zu kosten wie eine französische Delikatesse, »da Cam hierbleiben muß …« Sie ließ den Satz unvollendet und schielte dabei von dem Bestellformular, das sie gerade ausfüllte, zu Verona auf. Dann sah sie ihr geradewegs ins Gesicht. »Du hast doch von Cam und mir gehört, oder?«
Verona war an das Kühlregal getreten, als wollte sie die Qualität der Blumen inspizieren, die sie bereits bestellt hatte. »Ja«, bestätigte sie. »Ich meine mich zu entsinnen.«
Ein paar Minuten darauf entschwebte Verona wieder, nachdem sie noch einmal den genauen Zeitpunkt für die Lieferung der Gestecke festgelegt hatte (schließlich fand das Essen zu Ehren einer Autorin statt; es wäre äußerst unpassend, verwelkte Rosen für eine Schriftstellerin aufzustellen, die, wie sie es ausdrückte, bald in voller Blüte stehen würde). Allie war in den rückwärtigen Raum ihres Blumenladens gegangen, wo sie ihren Steckschaum, das Moos und die Trockenmittel, den Bast und Draht aufbewahrte. Sie stellte sich vor den winzigen Spiegel über dem Waschbecken und musterte ihr Antlitz. Dann durchforstete sie ein Regalfach, bis sie ihr Jahrbuch aus der High-School aufgestöbert hatte – das sie einzig und allein aufbewahrte, um Namen und Gesichter zuordnen zu können, die zu ihr in den Laden kamen. Sie klappte das Buch auf Veronas Seite auf. Es fiel ihr leichter zu glauben, daß sie, Allie, älter und klüger geworden, während Verona MacBean, in glänzendes Schwarzweiß gefaßt, steckengeblieben war. Es tat nichts zur Sache, daß Verona erst die Harvard-Universität und dann die von Yale besucht hatte, daß ihr erstes Buch – über Philosophie – das Gesprächsthema am Ort darstellte. Auf lange Sicht zählte einzig und allein, daß Allie Gordon Cameron MacDonald geheiratet hatte, was niemand in Wheelock auch nur im entferntesten für möglich gehalten hätte.
Hingegen hatte es vordem niemanden überrascht, daß Verona MacBean im Herbst 1977 Cameron MacDonalds feste Freundin geworden war – obwohl Cameron bereits die Abschlußklasse der High-School erreicht hatte, während Verona eben erst in die Schule eintrat. Alle beide waren unbestreitbar schön, Verona in der Art einer Sammelpuppe, während Cam fast alle Mitschüler überragte und mit seinen breiten, kräftigen Schultern und seinem rotblonden Haarschopf jedem sofort ins Auge fiel.
In sein Haar hatte sich Allie zuerst verliebt. Oft hatte sie in der Schulbibliothek gesessen, über ein schmales Bändchen mit Plath-Gedichten gebeugt, und darauf gewartet, daß er durch die gläserne Doppeltür trat, die den Lärm aus dem Schulkorridor abfing. Er kam jeden Tag während der Zeit, in der sie an der Theke saß und der dankbaren, überarbeiteten Bibliothekarin die Bücherausleihe abnahm. Dann ordnete sie immer die Bände in den Regalen hinter seinem Sitzplatz und
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