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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Oder die Erinnerung kommt irgendwann Stück für Stück zurück.
    Halten Sie das für möglich?«
    Er beugte sich vor und sah mich an. »Ich würde an Ihrer Stelle nicht darauf zählen«, antwortete er. »Alles ist möglich, aber wissen kann man es nie.«
    »Lange habe ich gedacht, dass ich am Ende eine Antwort bekommen würde«, erklärte ich. »Ich dachte, ich würde ihn sehen, und alles würde mir wieder einfallen. Ich war davon überzeugt, die verlorenen Dinge irgendwann wiederfinden zu können. Aber so wird es nicht sein, habe ich Recht?«
    »Was wollten Sie denn finden?«
    »Mich.«
    »Aha. Ja dann.«
    »Ich werde diese verlorene Abbie nie zurückbekommen, stimmt’s?«
    Professor Mulligan nahm eine der Blumen und roch daran. Er brach sie am Stielende ab und steckte sie sich ans Revers.
    »Sie haben hoffentlich nichts dagegen?«, fragte er. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Versuchen Sie, nicht so viel darüber zu brüten, woran Sie sich nicht erinnern können. Setzen Sie sich lieber mit dem anderen auseinander. Mit den Dingen, an die Sie sich erinnern.«

    Woran ich mich nicht erinnern kann. Manchmal zähle ich es an den Fingern ab: die Trennung von Terry, die Begegnung mit Jo, die Begegnung mit Ben, die Begegnung mit ihm. Für mich ist er immer noch namenlos, einfach nur »er«, der Mann, eine dunkle Gestalt, eine Stimme in der Dunkelheit. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich mich in Ben verliebt habe.
    Ich erinnere mich auch nicht an die Woche, in der ich einfach nur glücklich war, auf eine glorreiche Weise glücklich. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich aus meinem Leben gerissen wurde. Ich erinnere mich nicht daran, wie ich mich selbst verlor.
    Woran ich mich erinnere: eine Kapuze über meinem Kopf, eine Drahtschlinge um meinen Hals, einen Knebel in meinem Mund, ein Schluchzen in meiner Kehle, eine Stimme in der Nacht, ein Lachen in der Dunkelheit, unsichtbare Hände, die mich berühren, Augen, die mich beobachten, Entsetzen, Einsamkeit, Wahnsinn, Scham. Ich erinnere mich daran, gestorben zu sein, und ich erinnere mich daran, wie es war, tot zu sein. Ich erinnere mich an den Klang meines weiterschlagenden Herzens, an das Geräusch meiner nicht aussetzenden Atmung, an einen gelben Schmetterling auf einem grünen Blatt, einen silbrigen Baum auf einem kleinen Hügel, einen trägen Fluss, einen klaren See. An Dinge, die ich nicht gesehen habe und nie vergessen werde. Daran, noch am Leben zu sein. Ich erinnere mich.

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