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In seiner Hand

Titel: In seiner Hand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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Laterne auf dem Boden ab. Er hob die Arme, legte die Hände in den Nacken. Einen Moment lang kam er mir vor wie jemand, der gerade aufgewacht war und sich gähnend streckte, doch dann wurde mir klar, dass er seinen Schal löste. Er musste eine ganze Weile an dem komplizierten Knoten zerren und zupfen, bis er sich löste und ich im flackernden, orangefarbenen Licht der Laterne zum ersten Mal einen Blick auf sein Gesicht werfen konnte.
    Das Gesicht sagte mir nichts. Es kam mir nicht vertraut vor. Ich kannte ihn nicht. Schlagartig hatte ich das seltsame Gefühl, dass der Zeiger ein ganz kleines Stück nach vorne bewegt worden war und ich von einer Sekunde auf die andere einen klaren Blick bekam. Sogar in dem flackernden Laternenlicht nahm ich die Dinge plötzlich deutlich und scharf umrissen wahr. Von meinem Fieber war nichts mehr zu spüren. Sogar meine Angst hatte sich verflüchtigt. Ich hatte etwas wissen wollen, und nun wusste ich es. Selbst meine Gedanken waren jetzt klar und gradlinig. Ich konnte mich noch immer nicht erinnern, mein Gedächtnis war nicht zurückgekehrt. Der Anblick seines groben Gesichts löste keinen Schock des Wiedererkennens aus. Dennoch wusste ich jetzt, was ich so dringend wissen wollte.
    Ich hatte geglaubt, es habe mit mir zu tun. Ich hatte in meinem chaotischen Leben festgesteckt, in meinem anstrengenden Job und meiner katastrophalen Beziehung, und hatte geglaubt und befürchtet und mir zusammengereimt, dass er – dieser Mann dort drüben – all das in mir gesehen hatte. Ich war auf eine Katastrophe zugesteuert, hatte sie geradezu selbst heraufbeschworen.
    Er hatte das in mir erkannt, und deswegen waren wir füreinander geschaffen gewesen, hatten einander gebraucht. Ich hatte mich danach gesehnt, vernichtet zu werden.
    Nun wusste ich, dass das nicht stimmte. Möglicherweise war ich unvorsichtig gewesen, erschöpft und durcheinander, aber ich war ihm dennoch rein zufällig in die Hände geraten. Nein, nicht einmal das. Ich würde es nie mit Sicherheit wissen, doch ich nahm an, dass Jo ihm über den Weg gelaufen war, verletzlich, verzweifelt und krampfhaft auf der Suche nach etwas – das perfekte Opfer für ihn. Ich hatte mir Sorgen um Jo gemacht und war ihrer Spur gefolgt und ebenfalls bei ihm gelandet. Dieser erbärmliche Verlierer dort drüben hatte nichts mit meinem Leben zu tun. Er war nur der Meteor, der auf mich herabgestürzt, das Erdbeben, das unter meinen Füßen losgebrochen war. Und gerade das war so komisch. Nun, da ich hier in der Dunkelheit kauerte und genau wusste, dass ich wieder in der Falle saß, fühlte ich mich plötzlich von ihm befreit.
    Ich konnte mich nicht daran erinnern, was passiert war.
    Wahrscheinlich würde ich mich nie daran erinnern können. Trotzdem wusste ich jetzt genauer, was vor ein paar Wochen passiert war. Ich war dort draußen gewesen, im Land der Lebenden, und war dann versehentlich in sein Revier geraten, an den Ort, wo er seinem Hobby frönte.
    Wie war das bei einem Zweikampf? Ich hatte gehört, dass erfahrungsgemäß derjenige gewann, der als Erster zuschlug. Jedenfalls konnte ich mir in etwa denken, was passiert war. Ich war auf der Suche nach Jo gewesen.
    Dieser unscheinbare Mann war Teil des Hintergrundes gewesen, Teil des Mobiliars. Plötzlich war er in den Vordergrund gesprungen. Er hatte mich aus meiner Welt in die seine gezerrt. Diese Welt hatte nichts mit meiner zu tun, außer dass ich in ihr sterben sollte. Ich stellte mir vor, dass ich von diesem Mann, den ich vermutlich kaum richtig bemerkt hatte, überrascht worden war und mich zu spät zur Wehr gesetzt hatte. Ich hatte nicht mehr verhindern können, dass er meinen Kopf gegen die Wand schlug oder mir mit dem Knüppel eins überzog.
    Ich zwang mich nachzudenken: Wenn er mich sieht, was wird er tun? Ich zwang mich, mir ins Gedächtnis zu rufen, was er mir angetan hatte. Nachdem ich wochenlang versucht hatte, diese fürchterlichen Erinnerungen zu verdrängen, kramte ich sie nun ganz bewusst wieder hervor. Diese Erinnerungen waren wie ein entzündeter, infizierter, verfaulender Zahn, den ich so fest wie möglich mit der Zunge bearbeitete, um mir ins Gedächtnis zu rufen, wie sich Schmerz anfühlen konnte. Dann richtete ich den Blick wieder auf diesen Mann, der um Sarah herumscharwenzelte wie um ein Schaf, das zurück in den Stall geschafft werden musste. Koseworte vor sich hinmurmelnd, versetzte er ihr einen leichten Klaps und fuhr dann fort, Werkzeuge vorzubereiten. Er war zugleich der

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