Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
Vom Netzwerk:
aufgeworfen wie feuchtes Pergament, durch das eine rötliche Flüssigkeit nässte. Zwei schwarze, mit Filzstift angemalte Schlangenlinien zogen sich etwa dreißig, fünfunddreißig Zentimeter lang über das blutige Fleisch und markierten die Stellen, wo der Chirurg seine Schnitte für die Drainage setzen würde.
    Ein Krieg war erklärt und die Fronten gezogen worden.
    »Ich glaube, wir sind einander noch nicht begegnet«, sagte Lilly angespannt.
    »Dr. Clevenger«, stellte ich mich vor, ohne den Blick von ihren Schenkeln zu lösen. Ich stand einige Schritte vom Bett entfernt, wie immer, wenn ich meine Patienten das erste Mal besuche.
    »Mhmm. Kahl geschorener Schädel, Jeans, Cowboystiefel. Sie sehen nicht wie ein Arzt aus. Zumindest wie keiner, den ich hier im Mass General gesehen habe.«
    Ich sah sie herausfordernd an. »Wie sehe ich denn aus?«
    Sie brachte mühsam ein Lächeln zuwege. »Keine Ahnung. Wie ein Künstler vielleicht … oder ein Barmann.« Sie lachte, doch es klang matt. »Haben Sie auch einen Vornamen?«
    »Frank.«
    »Na gut, Dr. Frank Clevenger. Was ist Ihr Spezialgebiet? Chirurgie? Innere Medizin? Infektionskrankheiten?«
    »Ich bin Psychiater.«
    Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zur Wand um. »Das ist doch wirklich
un-glaub-lich
, verdammt noch mal.«
    Ich stand einen Moment lang da und starrte auf den Dschungel aus Infusionsschläuchen, durch die Amphotericin und Vancomycin in Lillys Unterschlüsselbeinschlagader tröpfelten. Ein Fenster direkt hinter den Tröpfen bot Ausblick auf Bostons Charles River in der Abenddämmerung, dessen Wasseroberfläche blaugrau und vollkommen still dalag. Ich wagte einen erneuten Versuch. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
    »Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Es ist mir egal.«
    Ich hörte eine Mischung aus Wut und Kapitulation in ihrer Stimme und trat näher ans Bett. »Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Ärzte mich gebeten haben, mit Ihnen zu sprechen?«
    »Vermutlich, weil sie Mist bauen«, maulte sie und schüttelte entnervt den Kopf. »Sie finden einfach nicht heraus, was mit mir los ist, deshalb stempeln sie mich als verrückt ab.«
    Das war zur Hälfte richtig. Die Ärzte stempelten sie
tatsächlich
als verrückt ab, wussten aber ganz genau, was mit ihr los war – zumindest körperlich.
    Drake Slattery, Chefarzt der Inneren Abteilung, hatte mir den Fall geschildert. Er hat die Statur eines Holzfällers und war Ringer in der Universitätsmannschaft von Duke, und die Muskeln seiner verschränkten Arme hatten angespannt gezuckt, während er sprach. »Sie ist vor etwa vier Monaten in die Notaufnahme gekommen, geradewegs aus den Flitterwochen auf St. Bart’s. Leichtes Fieber, rote Flecken auf ihrem Oberschenkel. Ich vermutete, irgendein tropisches Insekt hätte sie gestochen und eine leichte Entzündung des Unterhautbindegewebes hinterlassen. Keine große Sache. Aber ich Idiot habe meinen ganzen Terminkalender über den Haufen geworfen, um umgehend alle Untersuchungen zu veranlassen und sie auf Antibiotika zu setzen.«
    »Ist sie so hübsch?«, hatte ich gefeixt.
    Er warf mir einen beleidigten Blick zu. »Professionelle Höflichkeit; sie ist Krankenschwester drüben im Brigham & Women’s Hospital.«
    »Schon klar.«
    »Und ganz nebenbei ist sie schlichtweg umwerfend.«
    Ich schmunzelte.
    »Ich pumpe sie also mit Ampicillin voll, und es scheint zu wirken«, fuhr er fort. »Aber zwei Wochen später steht sie plötzlich wieder in der Notaufnahme. Ihr Bein ist auf doppelte Größe angeschwollen. Sie sagt, es fühle sich an, als würde jemand ein glühendes Messer in ihren Schenkel bohren. Und sie hat neununddreißig Grad Fieber.« Die Muskeln seiner Arme fingen wieder an zu zucken. »Das Ampicillin scheint nicht mehr zu wirken, also gebe ich als Nachschlag noch Rocephin dazu. Daraufhin geht die Schwellung auch ziemlich schnell zurück. Ende gut, alles gut, ja? Manchmal muss man den bösen Bazillen eben mit schweren Geschützen zu Leibe rücken.«
    Slattery war ein begeisterter Jäger, was es mir gelegentlich schwer machte, ihn trotz seiner einzigartigen Kombination aus Genialität und trockenem Humor zu mögen. »Du bist hier der Schütze«, erwiderte ich.
    Er zwinkerte. »Fünf Tage später ist sie wieder in der Notaufnahme, geschwollener und röter als je zuvor. Zittert am ganzen Leib. Über vierzig Grad Fieber. Jetzt fange ich wirklich an, mir Sorgen zu machen. Ich weiß einfach nicht, was es sein könnte.

Weitere Kostenlose Bücher