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Infam

Infam

Titel: Infam Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: K Ablow
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reiten.«
    »Hab ich gehört.«
    Er legte mir eine Hand auf die Schulter und sah zu Boden. »Hör mal«, flüsterte er. »Wenn ich für eine Art Feineinstellung vorbeikommen würde … Du verstehst schon, keine Generalüberholung. Grundsätzlich bin ich okay. Ein, zwei Therapiestunden vielleicht. So was in der Art.«
    »Kein Problem«, antwortete ich mechanisch. Es gelang mir kaum, meine Gedanken von Nantucket loszureißen.
    Er senkte seine Stimme noch weiter. »Ich will hier keine Vorzugsbehandlung. Aber ich weiß, dass du in deinem Leben einige der gleichen finsteren Orte besucht hast wie ich, und ich will da nie wieder hin, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Ruf mich an. Wir machen sofort einen Termin aus.« Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Justine uns beobachtete. Sie sah, dass ich sie bemerkt hatte, und vertiefte sich wieder in ihr Buch.
    Rossetti klopfte mir auf die Schulter und trat ein paar Schritte zurück. »Du siehst einfach absolut fantastisch aus«, verkündete er überlaut. »Hast du noch deine Maschine?«
    Nach unserer letzten gemeinsamen Therapiestunde waren wir mit unseren Harleys in die White Mountains gefahren. Ich nickte.
    »Meine werden sie zu mir in die Kiste legen müssen, Doc, weil ich im Sattel bleib, bis die Ewige Ampel auf Rot umspringt.« Er deutete auf meinen Kopf und zwinkerte. »Warum versuchst du es nicht mal mit diesen neuen Implantaten? Die sind inzwischen richtig gut. Sehen beinahe echt aus.« Er drehte sich zur Theke um, wo Mario zweifellos bereits Milch für ihn aufschäumte.
    Ich ging die letzten Schritte zu Justines Tisch. Sie las
Die Asche meiner Mutter.
 »Leichte Lektüre?«, bemerkte ich.
    Sie senkte ihr Buch. »Es ist so traurig, Frank. Was sie durchmachen mussten.« Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor.
    Ich setzte mich. Ihre olivfarbene Haut, die vollen Lippen und die tiefbraunen Augen gaben mir Halt. Alles Hässliche und Abscheuliche, das ich mit mir herumschleppte, war schon immer im Angesicht weiblicher Schönheit verblasst.
    »Du siehst angespannt aus. Was ist los?«, fragte sie.
    »Anstrengender Tag«, antwortete ich, ohne weiter auf ihre Frage einzugehen.
    »Was? Was war anstrengend?«
    Ich bin daran gewöhnt, dass ich die Fragen stelle. Zur Abwechslung zu antworten war unangenehm und verlockend zugleich. Ich deutete auf ihr Buch. »Menschen. Ihr Leid. Zu wissen, was man für sie tun kann und was nicht.«
    »Ja«, sagte sie. Der Ausdruck in ihren Augen gab mir das Gefühl, als verstünde sie es vielleicht tatsächlich. »Das muss sehr schwer sein.« Sie trank ihre Tasse aus. »Für mich wäre es zu viel.«
    Ich gab Mario ein Zeichen, ihr nachzuschenken, und zog an meiner Zigarette. »Wie kommst du darauf?«
    »Ich würde es nicht schaffen … wie sagt man noch? … meine Distanz zu wahren.«
    »Dasselbe Problem habe ich auch.«
    Justine stibitzte mit ihrer Fingerspitze etwas Milchschaum von meinem Kaffee und leckte ihn ab. »Aber du behandelst trotzdem Patienten. Machst du dir keine Sorgen um dich selbst?«
    »Jeden Tag.«
    Einen Moment lang herrschte Schweigen. »Mein Tag«, sagte sie schließlich, »bestand hauptsächlich aus Gedanken an dich.«
    Und mit einem Mal schmolz die Verkrampfung in meinem Kiefer und meinem Nacken dahin. Ich ergriff ihre Hand, und mein Puls beruhigte sich.
    Wir gingen zu mir. In meinen 175-Quadratmeter-Loft in Chelsea, dessen vom Boden bis zur Decke reichende Fenster Ausblick auf das Stahlskelett der Tobin Bridge bieten, die sich nach Boston hinüber spannt. Das Gebäude war als Fabrik errichtet worden, als die industrielle Revolution Chelsea von Ackerland und Sommerhäusern in Kohlenhalden und Spinnereien umwandelte. Es hatte zwei Brände überstanden, 1908 und 1973, die den größten Teil der Innenstadt in Schutt und Asche legten. Es war Zeuge, als die Stadt Welle um Welle von Einwanderern willkommen hieß– irischsprachige Gälen, russische Juden auf der Flucht vor dem Antisemitismus, Italiener, Polen, Puertoricaner, Vietnamesen, Kambodschaner, Salvadorianer, Guatemalteken, Serben.
    Die Aussicht ist so schonungslos und anmutig wie ein Schwergewichtskampf. Im Vordergrund: Schornsteine, Kähne, Schlepper, die mit Volldampf gegen die gigantischen Rümpfe der Öltanker auf dem Mystic River rammen. In der Ferne: die glänzende Skyline des Bostoner Bankenviertels.
    Justine, elegant und schlank in einer engen schwarzen Hose und einer taillierten schwarzen Bluse ohne Ärmel, stand an einem der Fenster, während ich ihr ein Glas

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