Insel des Sturms
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Ganz offensichtlich, gar keine Frage, war sie übergeschnappt!
Als Psychologin sollte sie es wissen.
Sämtliche Zeichen waren da, und zwar bereits seit Monaten. Die Gereiztheit, die Übellaunigkeit, der Hang zu Tagträumen und die Vergesslichkeit. Der Mangel an Motivation, an Energie, an der normalerweise für sie typischen Zielstrebigkeit.
Ihre Eltern hatten sich bereits in der ihnen eigenen milden Art, die besagen sollte, Du-kannst-es-besser-Jude, dazu geäußert. Und ihre Kollegen bedachten sie inzwischen mit verstohlenen Seitenblicken voll des stummen Mitleids oder des missbilligenden Unbehagens. Sie hatte begonnen, ihre Arbeit und ihre Studenten zu verabscheuen; bei ihren Freunden, Verwandten, Mitarbeitern und Vorgesetzten deckte sie permanent Dutzende störender Eigenschaften auf.
Allmorgendlich empfand sie die einfache Pflicht des Aufstehens und sich für den Unterricht Ankleidens als ebenso beschwerlich wie das Erklimmen eines Bergs. Und zwar eines Bergs, den sie weder aus der Ferne sehen noch mühselig erklimmen wollte.
Dazu kam dieses unbesonnene, impulsive Verhalten, das sie seit einer Weile an den Tag legte. O ja, dieses Verhalten war das Beunruhigendste von allem. Die stets ach so gelassene, nüchterne Jude Frances Murray, einer der kräftigsten Äste des Stammbaums der Chicagoer Murrays, die stets ach so vernünftige und arbeitswillige Tochter des Ärztepaares Linda und John K. Murray, schmiss plötzlich ihren Job hin.
Sie hatte weder ein Forschungssemester genommen noch um ein paar Wochen Urlaub gebeten, sondern einfach mitten im Semester ihren Posten an den Nagel gehängt.
Warum? Totaler Blackout!
Ihr Verhalten schockierte sie selbst ebenso wie den Dekan, ihre Kollegen und Eltern.
Hatte sie vor zwei Jahren, als ihre Ehe in die Brüche gegangen war, derart heftig reagiert? Nein, natürlich nicht. Sie war stoisch mit ihrer täglichen Routine fortgefahren wie zuvor – hatte ihre Vorlesungen abgehalten, ihre Studien weitergeführt, ihre Termine wahrgenommen – und das alles, ohne mit der Wimper zu zucken – selbst in den Wochen, in denen sie regelmäßig zu ihrem Anwalt geschlurft war und sorgsam die Papiere ausgefüllt hatte, die das Ende einer Beziehung besiegelten.
Nicht dass es eine besonders innige Verbindung gewesen wäre oder dass die Anwälte viel Arbeit gehabt hätten. Eine Ehe von nicht einmal acht Monaten Dauer bedeutete wenig Durcheinander, wenig Probleme. Wenig Leidenschaft.
Leidenschaft, so nahm sie an, hatte von Anfang an gefehlt. Hätte sie auch nur die geringste Leidenschaft gezeigt, hätte William sie ganz sicher nicht, beinahe noch ehe die Blumen aus ihrem Brautstrauß verwelkt waren, einer anderen Frau wegen verlassen.
Aber es war sinnlos, jetzt noch darüber nachzugrübeln, dachte sie. Hier handelte es sich um Jude Frances. Oder das hatte es jedenfalls, verbesserte sie sich. Wer sie jetzt war, wusste bestenfalls der liebe Gott.
Vielleicht stellte diese Frage einen Teil des Ganzen dar, überlegte sie. Sie hatte am Rande eines Abgrundes gestanden, hatte hinabgesehen in das weite, dunkle Meer der Gleichförmigkeit, der Monotonie, der Langeweile – das Miss Murray seit ihrer Geburt verkörperte. Heftig hatte sie
mit den Armen gerudert, war von dem Abgrund zurückgestolpert – und schreiend davongerannt.
Für sie eine vollkommen untypische Reaktion.
Bereits der Gedanke an ihr verändertes Verhalten versetzte ihr derartige Stiche, dass sie sich fragte, ob sie vielleicht, um die ganze Sache abzukürzen, einfach einen Herzinfarkt bekam.
AMERIKANISCHE COLLEGEPROFESSORIN TOT IN
GEMIETETEM VOLVO AUFGEFUNDEN
Es wäre ein seltsamer Nachruf. Vielleicht erschiene er ja sogar in der von ihrer Großmutter so geliebten Irish Times . Ihre Eltern wären natürlich vollkommen niedergeschmettert. Es wäre ein derart unordentlicher, öffentlicher, peinlicher Tod. Mehr als unpassend!
Natürlich waren sie auch traurig, aber vor allem verwirrt. Was, in aller Welt, hat sich das Mädchen nur dabei gedacht, einfach nach Irland abzuhauen und eine viel versprechende Karriere sowie eine herrliche Wohnung mit Seeblick aufzugeben?
Sicher kämen sie zu dem Ergebnis, das alles wäre die Folge von Omas unseligem Einfluss.
Und natürlich hätten sie mit der Vermutung Recht – so wie sie immer in allem Recht gehabt hatten, seit die Tochter infolge ihrer äußerst geschmackvollen Partnerwahl genau ein Jahr nach ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen war.
Obgleich sie lieber nicht darüber
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