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Inspektor Jury steht im Regen

Inspektor Jury steht im Regen

Titel: Inspektor Jury steht im Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Pracht durchaus ebenbürtig. Er war der Typ, der jedem Mann einen Spiegel vorhielt: Man konnte ihn nicht ansehen, ohne daß man das Gefühl bekam, seinen Schlips zurechtrücken und seinen Schneider verfluchen zu müssen. Winslow hatte überhaupt nichts Modisches an sich und erst recht nichts Trendmäßiges. Mit seiner goldockerfarbenen Kaschmirjacke und der unibraunen Seidenkrawatte war er ein Muster lässiger Eleganz. Er würde bestimmt, ohne sich etwas dabei zu denken, einen Trenchcoat über einem Abendanzug tragen.
    Und daß der Mann in einem Warboys-Monolog potentielle Anknüpfungspunkte für ein Gespräch entdeckte, war ein Zeichen außerordentlicher Phantasie, sogar für einen Dichter, der schon etwas publiziert hatte.
    Als Edward ihn anlächelte und ihm die Hand schüttelte, verstand Melrose, warum sich Pearl fast mit ihrer Halskette stranguliert hatte, weil Edward nicht persönlich sein Buch gebracht hatte.
    Wenn der Gedanke an Strangulation auch nicht gerade von gutem Geschmack zeugte, ging Melrose durch den Kopf, als sie in die Kälte und Nässe hinaus zu Edwards Wagen gingen – einem schwarzen BMW selbstverständlich, dem Savile Row unter den Automobilen. Nicht protzig, lediglich solide gebaut und unverwüstlich. Melrose glitt auf den Rücksitz, und die Türen klonkten ein. Er dachte an seinen Flying Spur, seinen Silver Ghost. Vielleicht konnten sie sich ja über Gedichte unterhalten.

12
    D AVID M ARR WAR IN DER B IBLIOTHEK und bereits um zehn Uhr morgens dabei, sich zu betrinken. Er stand neben einer Kommode aus Lack und Goldbronze, die aussah, als sollte sie eigentlich eher in einem Museum stehen, statt als Bartisch zu dienen.
    Tatsächlich sah die ganze Winslow-Bibliothek danach aus, als hätte Marshall Trueblood hier selig seinen Geist aushauchen können. Wenn das Haus von außen auch bedrückend öde gewirkt hatte – unbehauener Granit überragte mit all seiner mittelalterlichen Schwere dichtes und verknäultes Gehölz –, so fand sich in der Bibliothek nichts mehr von dieser Schlichtheit. Ein italienischer Marmorkamin wurde von Wandverkleidungen in Basreliefs flankiert, die Polstermöbel waren mit italienischem Brokatsamt bezogen, die Tapeten und Vorhänge von William Morris entworfen. An den Wänden hingen Familienporträts, Ölgemälde, Aquarelle, belgische Wandteppiche. Melrose hätte gern mehrere Stunden mit diesen prächtigen Bänden in den Bogennischen verbracht und noch ein paar Stunden, um die Gemälde und Porträts zu studieren. Neben einer belgischen Tapisserie hing etwas, das nach einem Pissaro aussah und daneben ein Millet, die freundliche und friedliche Darstellung eines reetgedeckten Wirtshauses, recht ansprechend, dachte er, trotz seiner momentanen Zweifel, ob reetgedeckte Gasthäuser überhaupt etwas zum allgemeinen Glück auf der Welt beitrugen.
    David Marr hielt eine Flasche Wodka hoch. «Haben Sie Lust auf ein Salzwasser?» sagte er, sobald man sie einander vorgestellt hatte.
    Melrose lächelte. «Nie davon gehört.»
    «Zwei Teile Wodka, genausoviel Ginger Ale und einen Schuß Grenadine.»
    Er goß die doppelte Menge Wodka in sein Glas. «Hat was Romantisches an sich, erinnert mich ans Meer. Natürlich» – er stellte die Flasche wieder ab – «lasse ich die Grenadine weg. Eigentlich laß ich auch das Ginger Ale weg. Wollen Sie wirklich keinen? Ned? Lucinda?»
    «Nein, danke», sagte Edward Winslow. «Wie ich sehe, trinkst du keinen Brandy mehr.»
    David Marr sank auf eins von zwei Queen-Anne-Sofas und glitt auf dem Rücken lehneabwärts. Er war ein attraktiver Mann und sah seinem Neffen ähnlich, obwohl er von den Farben her ein anderer Typ war. Edward war blond, er dunkel, seine Augen glitzerten schwarz und intensiv, Splitter vom Nachthimmel. Zu intensiv, um das betrunkene Playboy-Gehabe glaubhaft zu machen, und das Herumlümmeln auf dem Sofa zeugte nicht gerade von Selbstbewußtsein.
    Während er sich mit äußerster Konzentration einen Drink abmaß, meinte er: «Lucinda hat erzählt, Sie wohnen im Mortal Man. Und nun sind Sie hier und immer noch am Leben und können uns darüber berichten.» Er stellte die Flasche ab, wandte sich um und lächelte Melrose an.
    «Ich lebe tatsächlich noch. Werden die Warboys eigentlich nicht laufend beschimpft oder verklagt oder sonst was? Bis jetzt bin ich dreimal knapp einer Katastrophe entgangen – mein Teppich hätte fast Feuer gefangen, mein Koffer ist auf mich gestürzt, und das Frühstück ist auf meinem Schoß gelandet. Dieses

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