Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
erschüttert wurden, dass sie binnen weniger Monate komplett in sich zusammenstürzte. Und ich vor dem Nichts stand. Im wahrsten Sinne des Wortes. Gott war weg, mein Wertekanon zerplatzt, die Frage nach dem Sinn des Lebens offener denn je – und der Tod hatte ein
leichtes Spiel, wieder Macht über meine Gedanken zu erlangen und mir das Leben zu verdunkeln.
Es waren nur zwei Bücher, die meinen Glauben zum Einsturz brachten: Ludwig Feuerbachs »Das Wesen des Christentums« und Friedrich Nietzsches »Der Antichrist«. So einfach war das. Zunächst begegnete ich den Büchern hochnäsig. Was könnt ihr mir schon anhaben? Jedes eurer Argumente werde ich mit einer leichten Handbewegung fortwischen. Mein Glaube ist so stark, ich werde Feuerbach und Nietzsche zu Quacksalbern degradieren.
Da ich wusste, dass diese beiden Geistesgrößen eben auch zu den größten Kritikern des Christentums zählten, war es für mich selbstverständlich, genau mit ihnen meinen Kampf aufzunehmen. Nicht mehr mit den langweiligen Sonntagskirchgängern oder ein paar träge gewordenen Pastoren, nein, wenn schon Auseinandersetzung, dann auf höchstem Niveau. Und ich begann zu lesen. Nein, sagen wir besser, ich verschlang, ich fraß die Bücher. Las einzelne Passagen zweimal, dreimal und immer wieder. Blätterte parallel dazu in der Bibel oder in Texten kluger Theologen. Suchte anfänglich noch das Gespräch mit dem von mir hochgeschätzten Pastor. Was mich aber nicht weiterbrachte. Zog andere Schriften von Feuerbach und Nietzsche hinzu – und musste mir schließlich eingestehen, dass meine Argumente allmählich ihre Kraft verloren und
dass ich der Weltsicht meiner beiden Gegner kaum mehr etwas entgegenzusetzen hatte. Das Unfassbare war also geschehen. Mein Glaube hatte sich in kurzer Zeit aufgelöst, zersetzt, war verschwunden und weg. Gott ist tot, sagt Nietzsche. Und ich konnte dem nichts mehr erwidern. Damals eine Katastrophe für mich.
Es gab also keinen Trost mehr. Kein Gut, kein Böse. Kein Ziel und keine Aufgabe. Es gab nur die reine Existenz, in die ich mich hineingeschleudert fühlte – und den zerstörerischen Gedanken: In Anbetracht des Todes ist eigentlich alles sinnlos.
Wobei ich diesen Satz bewusst genau so formulierte, das heißt unter Einbeziehung des kleinen Wörtchens »eigentlich«. Es brachte eine diffuse Hoffnung zum Ausdruck, ein Nichtwissen, eine Sehnsucht. Ohne »eigentlich« hätte ich mir gleich das Leben nehmen können. Trotzdem verband ich alles, was ich tat und was geschah, immer sofort mit dem Tod.
Warum sollte ich studieren? Ich würde ja ohnehin irgendwann sterben. Warum sollte ich mich gesund ernähren? Ob ich früher oder später sterben würde, spielte keine Rolle. Warum sollte ich mich politisch engagieren oder zumindest positionieren? Es war doch alles sinnlos, weil nicht nur ich, sondern auch all die anderen sterben müssten und selbst die ganze Erde irgendwann untergehen würde. Wozu sollte man
also die Natur schützen, gewaltige Bauwerke errichten oder gegen Atomkraftwerke sein?
Heute erscheint mir meine damalige Auseinandersetzung mit dem Tod merkwürdig. Denn es war eine rein theoretische Beschäftigung. Ich kann nicht einschätzen, was mit mir passiert wäre, hätte es in dieser Zeit einen Todesfall in meiner unmittelbaren Umgebung gegeben.
Einen nahestehenden, geliebten Menschen zu verlieren, sterben zu sehen, sich von ihm für immer verabschieden zu müssen, zählt zu den schmerzlichsten Erfahrungen unseres Lebens. Egal ob man Atheist, Christ, Moslem, Jude, Buddhist oder was auch immer ist. Jeder aber geht mit diesem Schmerz anders um. Manche überwinden ihn nach einer gewissen Zeit, manche stürzen in eine tiefe Depression, manche zerbrechen gänzlich und für immer daran. Anderen jedoch gelingt es, das Unglück in irgendeiner Form religiös einzuordnen. Sie sagen sich: Gott wollte es so, Gott hatte einen Plan, Gott wird mir helfen.
Im Laufe meiner vielen Moderatorenjahre allerdings sind mir eine Menge Menschen begegnet, die wegen eines schweren Schicksalsschlages ihren Glauben verloren haben. Ich erinnere mich noch gut an den Anruf einer Mutter, deren Kind entführt, sexuell missbraucht und ermordet worden war. Sie saß quasi gefangen
in ihrer Wohnung, weil ihr Haus von Boulevard-Reportern belagert wurde, und sie konnte mit ihrem Mann und ihrem zweiten Kind, einem zwölfjährigen Mädchen, nicht sprechen, weil der Schock beide hatte verstummen lassen. Weder Mann noch Kind
Weitere Kostenlose Bücher