Interview mit dem Tod - Domian, J: Interview mit dem Tod
Gewaltregimen Hingerichteten?
Ist es richtig, dass bei Erdbeben und Flutkatastrophen Hunderttausende umkommen?
Ist es richtig, dass Kinder ermordet werden?
Ist es richtig ...
Beruhige dich, beruhige dich. Als Mensch, als mitfühlender Mensch musst du so sprechen, das ist folgerichtig. Und dein Intellekt kann all das nicht begreifen. In meiner Welt aber gibt es kein Gut und Böse. Alles ist, was es ist. Alles ist Ausdruck des Seins. Untergang heißt auch Aufgang. Das Sterben ist genauso bedeutsam wie das Geborenwerden.
Das soll ich der Mutter sagen, deren Kind ermordet wurde?
Nein. Überlass das den Predigern. Diese Einsicht kann der Mensch nur empfinden, nicht verstehen. Und für die meisten ist es ein weiter Weg, zu diesem Empfinden zu gelangen.
Nun bin ich so schlau wie vorher. Ich spreche mit dem Tod – und er kann mir nichts erklären.
So einfach, wie du es dir vorstellst, ist es nicht.
Du gebrauchst nur dein rationales Bewusstsein.
Du willst logische, für dein Denken plausible
Erklärungen. Damit kommst du nicht weit.
Ich habe nichts anderes als meine Vernunft.
Oh, doch! Du hast viel mehr. Du hast es nur noch nicht in dir entdeckt.
Jetzt wirst du esoterisch. Die Vernunft hat die Menschen sehr weit gebracht. Wir säßen noch auf den Bäumen oder in Höhlen, hätten wir unsere Vernunft nicht gebraucht.
Ja, und es gäbe auch keine Atombomben. Aber du hast schon Recht. Natürlich liegt auch viel Sinn in der menschlichen Vernunft. Das Herz allerdings ist viel wichtiger.
Das Herz?
Nennen wir es einmal so. Nur über das Herz führen die Wege zur Demut, zum Mitleid, zur Selbstlosigkeit, zur Liebe.
Ich fasse es nicht. Der Tod erzählt mir etwas von der Liebe – und genau in dieser Stunde sterben auf der Welt Hunderttausende, viele davon qualvoll, leidvoll und jämmerlich. –
Lass uns eine Pause machen.
3
Nachdem mein christlicher Glaube zusammengebrochen war, wurde ich Atheist. Alles Religiöse erschien mir absurd, lächerlich und vollkommen durchschaubar. Obwohl meine politische Gesinnung nicht einmal ansatzweise in Richtung Kommunismus tendierte, so gefiel mir der berühmte Ausspruch von Karl Marx, »Die Religion ist das Opium des Volkes«, doch ausgesprochen gut. Er brachte meines Erachtens die Sache auf den Punkt. So leidenschaftlich, wie ich noch kurz zuvor für Jesus Christus gestritten hatte, so leidenschaftlich wandte ich mich nun gegen ihn. Ich wollte mit diesem fordernden Gott nichts mehr zu tun haben. Um die Kirche als Institution ging es mir nicht, mir ging es um das Christliche an sich. Wie Schuppen schien es mir von den Augen zu fallen: All die Jahre zuvor hatte ich in einem geistigen Gefängnis gelebt. Denn Glauben bedeutete nun für mich, sich unterwerfen und sich knechten zu lassen. Ich sah den christlichen Gott plötzlich nicht mehr als einen liebenden Vater, sondern als einen brutalen, egozentrischen Herrscher, der es sogar zugelassen hatte, dass sein eigener Sohn hingerichtet wurde. Die Erklärung der Theologen, der Sohn sei für uns und für unsere Sünden gestorben, war für mich nicht mehr nachvollziehbar. Was für ein heidnischer und archaischer Vorgang
überhaupt, einen Unschuldigen für die Schuldigen zu opfern! Die zentralen Begriffe des Christentums – Schuld, Sühne, Gnade, Vergebung, Erlösung und Paradies – wurden zum Gräuel für mich. Ich empfand sie als Instrumente einer Gewissensinquisition.
Zum Beispiel das Paradies: ein grandioser Trick, die Menschen bei der Stange zu halten, sprich Macht über sie auszuüben. Lebte man nicht im Sinne christlicher Moral, würde man am Ende der Zeit vor dem Jüngsten Gericht nichts zu lachen haben. Überhaupt schien mir der Fokus viel zu sehr auf die Jenseitigkeit gerichtet zu sein statt auf das Hier und Jetzt. Nach dem Motto: Das Entscheidende kommt erst noch. Womit man auch listig jahrhundertelang die Menschen über missliche Lebensverhältnisse hinweggetröstet hatte. Das irdische Leben wurde kleingeredet, der »Lockvogel« Jenseits bombastisch aufgebaut und das Selbstbewusstsein der Gläubigen niedergedrückt.
Auch die Gebote nahm ich unter die Lupe und sah sie nun als Korsett und Zwangsjacke. Fast jedes »Du sollst« empfand ich als Diktat und gegen mich gerichtet. Ich wollte selbst und nach eigenem Gutdünken entscheiden, was zu tun und zu lassen notwendig war. Kein Gott sollte mir vorschreiben, dass ich nur an ihn als den einzig Wahren glauben dürfe, wann ich meine Wange wem hinzuhalten hätte – und dass ich
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