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Ismael

Ismael

Titel: Ismael Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Quinn
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Eins
    1
    Als ich die Anzeige zum ersten Mal las, blieb mir die Luft weg, und ich spuckte und fluchte und schleuderte die Zeitung auf den Boden. Als nicht einmal das genug schien, hob ich die Zeitung wieder auf, marschierte in die Küche und stopfte sie in den Müll. Einmal dort, machte ich mir eine Kleinigkeit zum Frühstück und versuchte, mich zu beruhigen. Ich aß und dachte an etwas völlig anderes. Jawohl. Dann fischte ich die Zeitung aus dem Müll und blätterte wieder zu den Kleinanzeigen. Ich wollte nur sehen, ob das blöde Ding noch da war und ob ich richtig gelesen hatte. Ich hatte.
    Lehrer sucht Schüler
mit ernsthaftem Verlangen,
die Welt zu retten. Persönliche Bewerbung erwünscht.
    Mit ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten. Das war gut. Das war unfaßbar. Mit ernsthaftem Verlangen, die Welt zu retten - wirklich genial. Bis Mittag würden zweihundert Idioten, Trottel, Gimpel, Simpel, Schwachköpfe und andere Hornochsen an der angegebenen Adresse Schlange stehen, bereit, ihre sämtlichen irdischen Güter dem erlesenen Privileg zu opfern, zu Füßen irgendeines Gurus zu sitzen, der mit der Botschaft schwanger ging, alles würde gut werden, wenn nur jeder seinen Nachbarn in die Arme schloß.
    Man fragt sich: Was regt der Mann sich so auf? Warum ist er so bitter? Eine berechtigte Frage. Ich habe sie mir übrigens selbst gestellt.
    Die Antwort ist in der Vergangenheit zu suchen, denn vor zehn, zwanzig Jahren glaubte ich in meiner Einfalt noch, das Wichtigste, das ich überhaupt bräuchte, sei... ein Lehrer. Jawohl. Ich glaubte, ich bräuchte einen Lehrer - und zwar ganz dringend. Einen, der mir zeigte, wie man ... na ja, wie man die Welt rettete.
    Blöd, was? Kindisch, naiv, unreif. Oder einfach gottserbärmlich dumm. Bei jemandem, der sonst so offensichtlich normal ist, bedarf das der Erklärung.
    Also das kam so.
    Als in den sechziger und siebziger Jahren die Kinder revoltierten, war ich gerade alt genug, um zu verstehen, was sie wollten - sie wollten die Welt auf den Kopf stellen -, und gerade noch jung genug, um zu glauben, es könnte ihnen gelingen. Wirklich. Wenn ich am Morgen die Augen aufmachte, erwartete ich, daß das neue Zeitalter bereits begonnen hatte, daß der Himmel noch blauer leuchtete und das Gras noch grüner war. Ich erwartete, daß die Luft vor Lachen vibrierte und die Menschen auf der Straße tanzten, und zwar nicht nur die Kinder, sondern alle! Ich entschuldige mich nicht für meine Naivität. Wer sich die Lieder anhört, die damals gesungen wurden, weiß, daß ich mit meinen Träumen nicht allein war.
    Dann eines Tages, ich war so um die fünfzehn, wachte ich auf und wußte, daß die neue Zeit nie anbrechen würde. Die Revolte war nicht niedergeschlagen worden, sondern war von selbst zu einer leeren Floskel verkümmert. War ich vielleicht der einzige Mensch auf der ganzen Welt, der dabei seine Illusionen verlor? Seine Orientierung? Anscheinend ja, denn alle anderen taten das Ganze mit einem zynischen Grinsen ab, das soviel sagte wie: »Was hast du denn erwartet? Es war nie mehr als das und wird auch nie mehr sein. Keiner will die Welt retten, denn keiner schert sich einen Dreck um die Welt. Das war alles nur das Gerede dummer Kinder. Such dir einen Job, verdiene Geld, arbeite, bis du sechzig bist, und beende dein Leben dann in Florida.«
    Ich konnte es nicht wie die anderen mit einem Schulterzucken abtun, und in meiner Unschuld glaubte ich, irgendwo müsse es einen Menschen im Besitz einer geheimen Weisheit geben, der meine Desillusion und Orientierungslosigkeit vertreiben könne: einen Lehrer.
    Natürlich gab es keinen solchen Lehrer.
    Ich wollte keinen Guru oder Kung-Fu-Meister oder geistigen Führer. Ich wollte nicht Zaubern lernen oder die Kunst des Bogenschießens, ich wollte nicht lernen, wie man meditiert, seine Chakras ins Gleichgewicht bringt oder sich an frühere Inkarnationen erinnert. Solche Künste und Disziplinen sind im Grunde egoistisch, ihr Ziel ist der Nutzen des Schülers - nicht der Welt. Ich war hinter etwas ganz anderem her, aber ich konnte es weder im Branchenverzeichnis noch sonstwo finden.
    In Hermann Hesses Morgenlandfahrt erfährt man nie, was Leos große Weisheit ausmacht. Hesse konnte es nicht sagen, weil er es selbst nicht wußte. Es ging ihm wie mir; er sehnte sich nach einem Menschen wie Leo, jemandem mit einer geheimen Weisheit und einem Wissen, das über sein eigenes hinausreichte. In Wirklichkeit gibt es ein solches Geheimwissen natürlich gar

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