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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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einiges gesehen, Typhus, Cholera und Pocken, denn oft machten die Bauern keinen Unterschied zwischen ihm und einem richtigen Arzt. Weil ein solcher, ein Tierarzt zudem, sich erst vor Kurzem in der Gegend niedergelassen hatte, hatte man
Neper
früher ans Krankenbett geholt. Woraus nicht selten das Totenbett wurde. Trotzdem schaffte es jener Mann, der halb so alt war, ihn zu verwirren.
    Auch diesmal war der Burghüter nicht schneller zur Stelle. Kaum hatte man den Blitzeinschlag gehört, schon hatte seine Frau ihn wach geschüttelt.
    «Wach auf, draußen brennt es, aber dein Hirn schwimmt im Schnaps!»
    «Auch wenn ich gerne saufe, bin ich noch lange nicht taub», erwiderte er. Er zog etwas über, nahm den Schlüssel und trat aus dem Haus. Hier begegnete ihm erneut der Feldwächter.
    «Wo brennt es?», fragte er.
    «Bei der Amerikanerin», antwortete Marian.
    «Dann ist Gott gerecht.»
    Kurze Zeit später läutete die Glocke und weckte auch die Letzten, die Toten vielleicht, um sie an ihre Pflicht zu erinnern. Der Apotheker zog sich an, kramte einige Eimer aus einer dunklen Kammer hervor, griff nach einem zweiten Mantel und lief zu Jakob. Er streckte ihm den Mantel entgegen. «Der Blitz ist eingeschlagen. Kommen Sie!»
    In jenem Augenblick tauchte von der Neroergasse her ein Pferd in einem Funkenregen auf. Sein Schweif und seine Mähne brannten, und aus dem glimmenden Fell stieg Rauch auf. Der Regen war gerade jetzt, da man ihn am meisten gebraucht hätte, schwächer geworden. Das Tier galoppierte dicht an ihnen vorbei. Es stieß gegen Mauern und Zäune, rammte einen Baum, dann knickte es entkräftet ein, versuchte wieder aufzustehen, blieb aber liegen. Es hob noch einmal den Kopf, in einem letzten Versuch, sich gegen den Tod zu stemmen, dann war es vorbei.
    «Kommen Sie! Man braucht uns», wiederholte Neper seine Aufforderung.
    «Das geht mich nichts an», erwiderte Jakob und sah Neper hinterher, der losgelaufen war.
    Als es aufhellte, war der Spuk vorbei. Der Orkan war weitergezogen, bei den ersten Gipfeln der Karpaten angekommen, würde er sich ein letztes Mal aufbäumen, sich dann abschwächen und sich auflösen. Es war still, als ob die Welt gerade erschaffen worden wäre.
    Neper rechnete nicht mehr mit Jakob, er hoffte nur, dass dieser nichts gestohlen hatte. Für solche wie ihn war ein unbewachter Hof eine Einladung. Wahrscheinlich aber war er ebenso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Und wenn er noch einmal auftauchen sollte, würde Neper dafür sorgen, dass er es bereuenwürde. Noch nie hatte jemand die Hilfe verweigert, noch nie sich dem widersetzt, was hier das Leben bestimmte: die Verpflichtung zum
Liebesdienst
. Das war man den anderen schuldig. Schuld hielt sie alle zusammen.
    Wenn einer starb, dann trug man als Liebesdienst seinen Sarg. Wenn einem das Haus abbrannte, dann schleppte man Eimer voller Wasser. Wenn er es wieder aufbaute, dann half man dem Hausherrn aus. Es gab unzählige Liebesdienste, so war es seit den ersten Tagen, den Tagen von Frederick Obertin, gewesen. So hatte man es wohl auch in Lothringen gehalten, dem Land, aus dem die meisten von ihnen stammten. Es gab das Korn der anderen, das eingebracht werden musste, das Schwein, das geschlachtet, der Karren, der instand gesetzt werden musste. Den Bau einer Mühle, einer Kirche, einer Gasse.
    Von Liebesdienst zu Liebesdienst zeugte man Kinder, verlor Kinder, verlor die Frau, fand eine neue, drosch das Korn, half einem Kalb auf die Welt, brannte sein Zeichen in Schweinsohren ein, verheiratete eine Tochter und wünschte sich einen Sohn, um ihm den Hof zu überlassen, ertrug Hitze und Hunger und auch den Fluss, wenn er böse und giftig alles überflutete, die Missernten, die Jahre der Ratten und der Cholera, das Alter und die Krankheiten, das verformte Rückgrat, die entzündeten Gelenke.
    Am Ende lebte man als Gast im eigenen Haus, bei seinem Ältesten oder seinem Schwiegersohn und ging täglich denselben Weg von der Pritsche zum Ofen, um die alten Knochen zu wärmen. Wenn das alles im Laufe eines Lebens hundertfach erledigt worden war, kamen die anderen und erfüllten einem den letzten Liebesdienst.
    Neper war schwarz vom Ruß, seine Hose war eingerissen, im Gesicht und an den Armen hatte er leichte Verbrennungen,Hut und Mantel waren verloren gegangen, und er hustete dauernd. Viel zu wenige waren gekommen, um der Amerikanerin und ihrem Vater zu helfen, zwei oder drei außer ihm, ansonsten nur die wenigen Tagelöhner, die bei

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