Jage zwei Tiger
dass er gelogen hat, und du musst dir keine Sorgen machen, ich passe auf ihn auf.«
Währenddessen ließ sie vor lauter Anspannung ihr Handtuch fallen, sodass sie plötzlich nackt vor Kai rumstand, was ihr, wie sie irritiert feststellte, überhaupt nichts ausmachte. Kai machte das auch nicht unbedingt was aus. Trotzdem vergrub er den Kopf in seinem Kissen und haute mehrere Male mit geballten Fäusten auf die Matratze, während er aus dem Telefon wütendes, nicht genau zu verstehendes Geschrei von Detlev hören konnte. Cecile legte irgendwann einfach auf. Dann sagte sie, es tue ihr zwar leid, aber dass das einfach habe sein müssen. Kai nickte und schmiss sein Telefon in den Mülleimer. Nach zwanzig Minuten war er wieder eingeschlafen. Cecile stand die halbe Nacht rauchend am Fenster und sah mehreren besoffenen Menschengruppen beim Nachhausegehen zu. Sie fragte sich, in was für eine absurde Kacke sie da schon wieder geraten war, und dachte an Samantha, die sie sich als einarmig an einem Trapez hängende Proletenzicke vorstellte. Sie stellte sich das Grab von Kais Mutter vor und danach, wie auf ihrem eigenen Grabstein mal »Keep on fighting« stehen würde.
Während Kai und Cecile am nächsten Tag auf den Pausenhof einer Grundschule für Sprachbehinderte zuliefen und sich Kais sämtliche Muskelgruppen beim Anblick des dort aufgebauten sechsmastigen Zirkuszelts zusammenzuziehen begannen, er zitterte, und sein Zwerchfell drohte zu zerreißen, lief Samantha achthundert Meter entfernt in ihrem »here comes trouble«-Sweatshirt durch eine Aldi-Filiale. Zwei ihrer Brüder stritten sich gerade über Cornflakes, während der dritte ihr derart provokativ ins Gesicht starrte, dass sie ihn fragte, ob er sie angucke, weil sie so hässlich sei.
»Ja.«
»Toll.«
»Deine sogenannten Hautirritationen. Sieht von hier aus voll lustig aus.«
»Ach ja? Du hast auch Pickel.«
»Aber nicht so drei richtig krass auffällige.«
»Streitet ihr euch jetzt über Pickel oder was?«
»Wer hat den größten!«
»Na du!«
»Was?«
»Dein Kopf, Mann!«
Vierzig Minuten später saß die komplette Familie im Küchenwagen, der zur Abwechslung mal sonnendurchflutet war. Samanthas Mutter packte die Einkaufstüten aus und sagte, sie finde alles richtig scheiße. Samantha fragte, was sie dafür könne, während die Mutter ihr Betroffenheitsgesicht auflegte, gekoppelt mit dem ins Leere laufenden Vorwurf an ihren schweigenden Mann, warum der ihr Kinder gemacht hatte, die nicht im Säuglingsstadium verweilt hatten: »Nee wirklich, das ist, also, man schickt euch los, und ich geb ihm« – die Mutter deutete auf Rocco und schnaubte mehrmals hintereinander – »Geld und nen Einkaufszettel, und jetzt guck ich auf den Kassenbon, und da ist noch ne Currywurst drauf! Man kann euch nirgendwo hinschicken mit Geld, und ihr macht das, was euch gesagt wird, sondern es ist immer so, dass da dann noch ne Currywurst drauf ist oder ne Bifi.«
»Ja.«
»Du sagst immer nur ja, ja, ja und hörst nicht auf, Rocco!«
»Was soll ich denn sonst sagen?«
»Ich hab keinen Bock mehr! Wenn das so weitergeht, könnt ihr alle eure Sachen packen und ins betreute Wohnen oder wie nennt man das!«
Rocco machte eine Kaugummiblase.
»Und hör auf mit den Blasen!«
»Ich find’s auch scheiße, ehrlich gesagt«, sagte Samantha.
»Was ist denn euer Problem hier plötzlich?«
»Mein Problem ist, Rocco, dass du so eine Scheiße ständig abziehst, und ich toleriere das sozusagen, weil du halt mein Sohn bist, weil ihr alle meine Kinder seid und du dann aber null Respekt vor mir hast.«
»Ich hab voll viel Respekt vor dir, ey.«
»Und mein anderes Problem ist, dass alle meine Kinder keinen Respekt vor mir haben. Dass Maria immer anfängt zu jammern, wenn man ihr irgendwas sagt, zum Beispiel, dass sie vom Computer weggehen soll, und sie geht in ihr Zimmer und: Whuääääh!«
»Weiß ich. Und was ist jetzt damit?«
Maria fing bitterlich an zu weinen, dieses ungefähr siebenjährige Mädchen auf der Küchenanrichte, mit einem Mortadellabrot in der Hand und einer kleinen Zirkusdirektorenuniform am Leib, wie einem Dokumentarfilm über Robbenbabys entrissen.
»Na ja, guck doch mal, jetzt fängt die nämlich schon wieder an zu heulen!«
Die Mutter stürmte aus dem Wagen. Bevor Samantha dasselbe tat, antwortete sie auf die rhetorische Frage ihres Bruders, was sie zu der ganzen Sache sage: »Dass die Mama schon irgendwie recht hat. Also, dass sie recht hat, wenn sie
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