136 - Im Schloss der Daa'muren
Gestern, in Beelinn
Es war ein kühler, windiger Spätnachmittag im April. Der Platzregen hatte aufgehört; im Westen brach die Sonne durch, und vor dem dunklen Wolkengebräu über den Toren der Stadt schillerte ein Regenbogen.
»Herrgott, wo bleibt sie denn?« Jenny Jensen klang gereizt.
Sie stand am Außenschott der Finnigook, eines fest in Beelinn stationierten EWATs, und schaute wohl zum hundertsten Mal hinaus in die Pfützenlandschaft. Commander Matthew Drax hatte sich auf den Rand einer Pritsche gesetzt und überprüfte noch einmal seinen Driller. Die Mannschaft war längst an Bord, die Triebwerke liefen schon, der EWAT war startbereit.
Es fehlte nur Aruula.
»Sie wird gleich kommen«, sagte Matt. »Mit dem Hund war etwas nicht in Ordnung, da wollte sich Aruula noch Rat holen.«
Jennys Kopf ruckte hoch. »Canada? Was ist mit ihm?«
Matt hob die Schultern. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich gar nichts. Aber er hat sein Futter erbrochen, deshalb sollte ihn sich einer der Hundeführer mal ansehen.« Er grinste. »Muss ja nicht sein, dass sich so was auf dem Flug wiederholt.«
»Canada ist krank?«, rief Jenny erschrocken. Matts Lächeln verschwand. Abwehrend hob er die Hände. Er wollte schnell etwas sagen, irgendwas Beruhigendes, doch es war bereits zu spät.
»Unmöglich, dass er krank ist! Heute Morgen war Canada noch kerngesund!« Jenny hatte mit den Armen gefuchtelt auf ihrer nervösen Wanderung durch das EWAT-Segment. Jetzt blieb sie stehen und wies anklagend auf Matt. »Rudgaar hat den Doyzdogger deiner Freundin anvertraut. ›Wenn einer das Kind findet, dann er!‹, hat er gesagt. Und jetzt ist Canada plötzlich krank?«
Matt verspannte sich, und zwischen seinen Brauen entstand eine tiefe Furche. »Was willst du da andeuten, Jenny?«, fragte er bestürzt. »Du glaubst doch nicht etwa, Aruula hätte ihn absichtlich… nein, das kannst du nicht glauben. Bitte!«
»Natürlich nicht.« Jenny winkte ab, kam heran und ließ sich neben Matt auf den Pritschenrand fallen. Müde strich sich die junge Frau über die Augen. »Tut mir Leid!«, sagte sie. »Ich hab es nicht so gemeint. Aber weißt du – dieser Hund ist vielleicht unsere einzige Chance, Ann zu finden.«
Matt hatte Verständnis für Jennys desolates Nervenkostüm.
Erst hatten die Daa’muren Ann entführt, dann war sie für Monate eine Gefangene in ihrem eigenen Palast gewesen, konnte schließlich flüchten und hatte lange vergeblich versucht, ihn per ISS-Funk zu alarmieren, und dann hatten die Daa’muren ihre besten Freunde umgebracht, um sie wieder in die Finger zu bekommen. Nach der Befreiung war sie derart zerrüttet gewesen, dass sie Est’sil’aunaara bei deren Fluchtversuch erschossen hatte.
»Unsinn!« Commander Matthew Drax legte jedes Quäntchen Überzeugung in seine Stimme, das er nur auftreiben konnte. »Wir finden Ann auf jeden Fall, ob Canada nun mitkommt oder nicht! Die Daa’murin hat beim VR-Verhör eine ganz passable Ortsbeschreibung rausgerückt.«
»Ein Schloss in den Karpaten!«, sagte Jenny düster.
Sie hielt den Blick gesenkt, deshalb sah sie auch nicht das Glänzen in Matts Augen, als er antwortete: »Wir sind dem von Est’sil’aunaara genannten Fluss Trotus auf unseren ISS-Karten gefolgt – und ich denke, es besteht kein Zweifel, wo Ann steckt!«
Jenny sah auf, und Matt nickte ihr zu.
»Schäßburg«, sagte er beinahe feierlich. »Das alte Dracula-Gemäuer in Siebenbürgen! Das perfekte Versteck!«
Wider Willen musste Jenny lachen. Sie schüttelte den Kopf, klopfte Matt auf den Schenkel und erhob sich. »Du hast dich seit Köpenick (US-Luftwaffenstützpunkt bis 2012) kein bisschen verändert, Commander! Gebt mir einen Auftrag, und ich finde das Abenteuer darin! Deine Tochter ist in solchen Dingen genau wie du. Hast du das gewusst?«
»Nein, habe ich nicht.« Matt runzelte die Stirn. Eigentlich weiß ich kaum etwas von Ann, dachte er und spürte dabei – nicht ohne Verwunderung – ein unangenehmes Gefühl in sich aufsteigen. Wie ein schlechtes Gewissen.
Matts Blick wanderte durch das geöffnete Schott. Der EWAT parkte auf einem freien Platz vor den Toren Berlins, und man konnte weit in die Ferne sehen; über Wiesen und Felder und Baumreihen, deren junges Grün in der Nachmittagssonne leuchtete.
Irgendwo da draußen wird ein kleines Mädchen gefangen gehalten. Fern von ihren Eltern, fern von zuhause. Schon seit einem halben Jahr! Sie hat mir ihre Liebe geschenkt, und ich habe sie geschmeichelt angenommen.
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