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Jage zwei Tiger

Titel: Jage zwei Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Hegemann
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sagt, dass du nicht mit Geld umgehen kannst.«
    »Wie bitte? Du bist doch schuld an allem!«
    »Hä?«
    »Na, wegen der Bifi!«
    Rocco schmiss eine Gabel nach ihr. Samantha legte ein enorm betretenes Gesicht auf und wiederholte einen Satz, den sie am Vortag zufällig in einer Dokumentation über das Adlon gehört hatte: »Eine derart kaputte häusliche Szene hab ich noch nie erlebt.«
    Dann verließ sie den Wagen und brach in schallendes Gelächter aus, weil sie grundlos daran denken musste, wie sich das Rhinozeros aus dem Zirkus ihres Onkels während der Vorstellung mal mit den Hinterbeinen auf den Manegenkasten gestellt und von dort aus ins Publikum geschissen hatte. Während sie sich fragte, ob die betreffenden Zuschauer mittlerweile, also fünf bis sechs Jahre später, über diesen entsetzlichen Vorfall hinweggekommen waren, liefen einige Gruppen sechs- bis zwölfjähriger sprachbehinderter Kinder an ihr vorbei. Chiffon-Pumphosen, ungewaschene Zaubererkostüme und Miniaturversionen des Prinzessinnenkleids ihrer Mutter am Leib, in ihren Gesichtern ungefilterte Aufregung. Auf mehreren Bierzeltbänken wurden sie von ihren Klassenlehrerinnen geschminkt, zwei von ihnen standen hyperventilierend in der gegenüberliegenden Ecke bei den Dixiklos und versuchten in Plastiktüten auszuatmen. Eilkrit rannte mit nur halb angezogenem Kleid und ihren Tauben über den Platz. Hysterisch rief sie allen zu, dass man Vogelscheiße am besten mit Sägemehl aus den Haaren bekomme.
    Lamberto machte auf einer Weichbodenmatte Handstand und bereitete irgendeinen mit Akrobatik versetzten Stummfilmsketch vor. Als Samantha an ihm vorbeilief, warf sie ihm eine Kusshand zu wie einen Basketball in den Korb. Sie selbst war für die Clowns zuständig, eine kleine Gruppe von Kindern, die auf die Frage, was sie später werden wollen, normalerweise »Fernsehmoderator« oder »Comedian« antworteten. Die Nummern waren seit Samanthas Geburt dieselben geblieben, Kinder in zu großen Klamotten bekamen eine rote Nase angemalt und ihre Versuche, den Zirkusdirektor zu rasieren oder Koffer zu transportieren oder ein Shetlandpony über einen Stock springen zu lassen, arteten grundsätzlich im immer gleichen Effekt ungelenk eingeübter Trottelaktionen aus. Sie hatte keine Ahnung, wo sich die Kinder aus ihrer Gruppe gerade befanden, und ehrlich gesagt auch Bedenken, ob Clowns, die nicht zur flüssigen Artikulation von Sprachlauten fähig waren, den gewünschten Effekt erzielen würden. Einige Elternteile standen bereits am noch geschlossenen Kartenhäuschen. Gegenüber von ihnen zog Rocco im Popcornwagen seine Paillettenweste falsch rum an. Samantha lief an allen vorbei, demonstrativ arrogant. Die Menschen auf dem Gelände schienen eine Gasse für sie zu bilden, als würde sich gerade das Meer teilen, ein Schwarm tieffliegender Krähen jagte knapp über der Zeltspitze vorbei, was einen Moment lang die Blicke aller Anwesenden in den grünen Himmel lenkte, und als sich Samantha gerade im Vorzelt ihres Wohnwagens umzuziehen begann, stieg ihr der Geruch von Spiritus in die Nase, die Luft begann zu zittern, sie hörte Flammen, eher ein Kratzen als ein Knistern, und rannte um ihren Wagen herum, hinter dem ihr Vater in einigen Metern Entfernung seinen inzwischen vierten Komposthaufen angezündet hatte. Ihr Vater stand mit dem Rücken zu ihr und einem leeren Benzinkanister in der Hand vor dem drei Meter hohen Biomüllberg und schmiss da hintereinander mehrere Streichhölzer rein. Samantha wollte schreien oder zu ihm rennen, konnte sich aber wie im Traum weder bewegen noch ihre Stimme benutzen. Ihr Vater stand einfach nur da, wie ein phlegmatischer Actionheld, und der Komposthaufen stand innerhalb kürzester Zeit in meterhohen Flammen. Die ersten Menschen kamen aus der Ferne auf das Feuer zugerannt. Ihr Vater drehte sich zu Samantha, lächelte sie trübe an und ging dann seelenruhig den Leuten entgegen und durch ihre Mitte hindurch auf das andere Ende des Schulhofes zu. Samantha nahm all das in Zeitlupe wahr und beobachtete ihn mit offenem Mund dabei, wie er sich auf einen Liegestuhl vor dem Hintereingang des Zelts legte und die Arme hinter seinem Kopf verschränkte. Dann schloss er die Augen und schlief ein, so zufrieden, wie Samantha ihn lange Zeit nicht gesehen hatte. Nicht zu bezähmende Panik erfasste sie. Ihre Mutter schrie wie am Spieß »Wasser, Wasser!« und bemühte sich vergeblich, die anderen Leute dazu zu bringen, irgendetwas zu unternehmen. Niemand tat

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