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Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl

Titel: Jahrestage 1: Aus dem Leben von Gesine Cresspahl Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Johnson
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Fahrkarten und besuchte Pisa, Florenz, Bologna, Venedig, Mailand, Orvieto, Rom und andere Städte. In Rom erfüllte der Philosoph die Bedingung für den Erwerb der Fahrkarte und warf einen Blick auf die Glaskästen der »Faschistischen Ausstellung«, in denen Revolver und Gummiknüppel der »faschistischen Märtyrer« ausgelegt waren.
    Sartre las damals die Zeitungen »schlecht, aber eifrig«. Im Herbst 1933 fuhr er nach Deutschland, um dort ein Jahr am Institut Français in Berlin zu verbringen.
    Der Winter 1933 war nicht eine günstige Zeit für Cresspahls Einrichtung in Jerichow. Damals verstand man noch nicht, bei kalten Temperaturen zu mauern, und er konnte absehen, daß das Grundstück seiner Tochter erst im nächsten Frühjahr geeignet sein würde für Arbeiten und Wohnen. Zwar war er nun wieder mit seiner Frau unter einem Dach, aber es war das Dach von Papenbrock.
    Die Trennung von ihr war wiederum gut gewesen für die Auslösung des Prozesses, in dem Entbehrung und Bedürfnis am erinnerten Bild des Anderen schaben, retouchieren und malen, bis die Erwartung alles Unbequeme unterschlägt und die wünschbaren Eigenschaften und Verhaltensweisen so kräftig im Augenmerk hält, daß das Erträumte für Tage vor der Wirklichkeit des Anderen stehen kann; die Trennung war vielleicht zu lang gewesen für Lisbeth. Gewiß, er war zu nachtschlafender Zeit in Jerichow angekommen, und sein Klopfen an Papenbrocks Tür mochte sich angehört haben wie das von einer schlechten Nachricht; warum aber war sie aus dem Schreck gar nicht mehr herausgekommen und hatte das Weinen nicht lassen hönnen, bis Louise Papenbrock sie zu ihrem Bett zurückführte? Der alte Papenbrock war mit Behagen bereit gewesen, Cresspahl und zwei Flaschen Rotspon Gesellschaft zu leisten bis in die kleinen Stunden des nächsten Tages; Cresspahl war es, als habe sie nicht gleich mit ihm allein sein wollen. Sie hatte sich betragen, als sei mit seiner Ankunft etwas Gefürchtetes eingetreten. Er hatte versucht, den ersten Abend zu vergessen, und sah gleich am Morgen wieder, was er gewünscht hatte, und ihre Art, ihn schrägköpfig neckend anzusehen, paßte so ohne Naht und Schatten in seine Erwartung, daß er abermals bei sich beschloß, auch noch mit gutem Willen in diesem Jerichow anzufangen. Dann war ihm doch unbehaglich, daß sie ihm das Kind wieder und wieder als »deine Tochter« vorführte in einem Ton, der auf etwas anderes hinwies, als er sehen konnte.
    Er konnte auch nicht immer erkennen, was denn sie so unverhofft aus einer spaßlustigen Laune in düsteres Brüten schickte; einmal hatte er gefragt, und sie hatte fast in der Art eines Verweises geantwortet, sie wisse nicht, was für eine Finsternis in ihrer Miene sei, und er gab das Fragen auf. Manchmal auch war sie so fahrig, ungeduldig, empfindlich, daß er sie darauf ansah, ob sie Erzählungen von Elizabeth Trowbridge überhaupt vertragen werde. Er schob das auf später, nicht gerne.
    Wat is di, Lisbeth.
    Wat sall mi sin, Cresspahl.
    Wess man werre richtich.
    Das Kind. Das Kind war rötlich im Gesicht von den vielen Mohrrüben, die es zu sich nahm. Wenn das Kind satt war, war es freundlich zu allen Leuten. Das Kind schien alle Leute im Haus zu kennen, und nahm Cresspahl hin wie noch Einen. Das Kind blökte seine gequetschten Kehltöne auf Papenbrocks Schoß so angeregt wie auf seinem. Wenn das Kind zu den Erwachsenen gebracht wurde, war es Papenbrock, der im Zimmer auf und ab schritt und nachsah, ob nichts von blauer Farbe offen dastand, denn das Kind nahm alles Blaue für die blaue Steingutschüssel, aus der es sein Essen bekam. Alle im Haus hatten Gewohnheiten mit dem Kind; Cresspahl war da bloß ein Zuschauer. Wenn das Kind allein war, legte es sich eine Hand neben den Kopf und wandte den Kopf zu der Hand und betrachtete die Hand und bewegte sie und krümmte sie und versuchte zu begreifen, was das war und wieso es tat was es tat. Cresspahl stand da manchmal und sah dem Kind zu und wartete, ob das Kind sich an ihn wenden werde. Aber er war auf zu leisen Sohlen gekommen, und es kam nicht zu einer Aussprache unter vier Augen.
    Der alte Papenbrock war etwas verwirrt. Er fand nicht ohne Mühe hindurch zwischen den neuen Sachen und Worten, die aus Berlin nach Jerichow geschickt wurden, Reichsnährstand, Erbhof, Winterhilfswerk. Er fand an jedem Gesetz der Reichsregierung Hitler etwas auszusetzen, allerdings auch eine annehmbare Seite. Er fand es praktisch gedacht, daß die Erbhöfe nicht geteilt und

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