Jakob der Luegner
Kopf. Aber warum verbieten sie uns die Bäume? Ich habe schon tausendmal versucht, diese verfluchte Geschichte loszuwerden, immer vergebens. Entweder es waren nicht die richtigen Leute, denen ich sie erzählen wollte, oder ich habe irgendwelche Fehler gemacht. Ich habe vieles durcheinandergebracht, ich habe Namen verwechselt, oder es waren, wie gesagt, nicht die richtigen Leute. Jedesmal, wenn ich ein paar Schnäpse getrunken habe, ist sie da, ich kann mich nicht dagegen wehren. Ich darf nicht soviel trinken, jedesmal denke ich, es werden schon die richtigen Leute sein, und ich denke, ich habe alles sehr schön beieinander, es kann mir beim Erzählen nichts mehr passieren.
Dabei erinnert Jakob, wenn man ihn sieht, in keiner Weise an einen Baum. Es gibt doch solche Männer, von denen man sagt, ein Kerl wie ein Baum, groß, stark, ein bißchen gewaltig, solche, bei denen man sich jeden Tag für ein paar Minuten anlehnen möchte. Jakob ist viel kleiner, er geht dem Kerl wie ein Baum höchstens bis zur Schulter. Er hat Angst wie wir alle, er unterscheidet sich eigentlich durch nichts von Kirschbaum oder von Frankfurter oder von mir oder von Kowalski. Das einzige, was ihn von uns allen unterscheidet, ist, daß ohne ihn diese gottverdammte Geschichte nicht hätte passieren können. Aber sogar da kann man geteilter Meinung sein.
Es ist also Abend. Fragt nicht nach der genauen Uhrzeit, die wissen nur die Deutschen, wir haben keine Uhren. Es ist vor einer guten Weile dunkel geworden, in ein paar Fenstern brennt Licht, das muß genügen. Jakob beeilt sich, er hat nicht mehr viel Zeit, es ist schon vor einer sehr guten Weile dunkel geworden.
Und auf einmal hat er überhaupt keine Zeit mehr, nicht eine halbe Sekunde, denn es wird hell um ihn. Das geschieht mitten auf dem Damm der Kurländischen, dicht an der Ghettobegrenzung, wo früher die Damenschneider ihr Zentrum hatten. Da steht der Posten, fünf Meter über Jakob, auf einem Holzturm hinter dem Draht, der quer über den Damm gezogen ist. Er sagt zuerst nichts, er hält Jakob nur mit dem Scheinwerfer fest, mitten auf dem Damm, und wartet. Links an der Ecke ist der ehemalige Laden von Mariutan, einem zugewanderten Rumänen, der inzwischen wieder nach Rumänien zurück mußte, um die Interessen seines Landes an der Front wahrzunehmen. Und rechts ist das ehemalige Geschäft von Tintenfaß, einem einheimischen Juden, der inzwischen in Brooklyn, New York, steckt und weiter Eins-a-Damenkleider näht. Und dazwischen, auf Kopfsteinpflaster und allein mit seiner Angst steht Jakob Heym, eigentlich schon zu alt für solche Nervenproben, reißt seine Mütze vom Kopf, kann nichts in dem Licht erkennen, er weiß nur, irgendwo in dieser Helligkeit sind zwei Soldatenaugen, die ihn gefunden haben.
Jakob geht die naheliegendsten Verfehlungen durch und ist sich keiner bewußt. Die Kennkarte hat er bei sich, auf der Arbeit hat er nicht gefehlt, der Stern auf der Brust sitzt genau am vorgeschriebenen Ort, er sieht noch einmal hin, und den auf dem Rücken hat er vor zwei Tagen erst festgenäht. Wenn der Mann nicht gleich schießt, kann ihm Jakob alle Fragen zur Zufriedenheit beantworten, er soll doch nur fragen.
»Irre ich mich, oder ist es verboten, nach acht auf der Straße zu sein?« sagt der Soldat endlich. Einer von der gemütlichen Sorte, die Stimme klingt nicht einmal böse, eher milde, man hätte Lust, ein wenig zu plaudern, der Humor soll nicht zu kurz kommen.
»Es ist verboten«, sagt Jakob.
»Und wie spät ist es jetzt?«
»Ich weiß nicht.«
»Das solltest du aber wissen«, sagt der Soldat.
Jakob könnte jetzt sagen »das ist wahr«, oder er könnte fragen »woher«, oder er könnte fragen »wie spät ist es denn?«
Oder er könnte schweigen und warten, und das tut er, das scheint ihm am zweckmäßigsten.
»Weißt du wenigstens, was das für ein Haus da drüben ist?«
fragt der Soldat, nachdem er wohl festgestellt hat, daß sein Partner nicht der rechte Mann ist, um ein Gespräch in Schwung zu halten. Jakob weiß es. Er hat nicht gesehen, wohin der Soldat mit dem Kopf gewiesen hat oder mit dem Finger gezeigt, er sieht nur den grellen Scheinwerfer, hinter ihm stehen viele Häuser, aber beim augenblicklichen Stand der Dinge kommt nur eins in Frage.
»Das Revier«, sagt Jakob.
»Da gehst du jetzt rein. Du meldest dich beim Wachhabenden, sagst ihm, daß du nach acht auf der Straße gewesen bist, und bittest um eine gerechte Bestrafung.«
Das Revier. Jakob weiß nicht
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