Jakob der Luegner
die keinen Sinn ergeben, aber auch wenn das Holz dünner wäre, hätte er nicht viel davon, denn kaum ein Mensch redet einen anderen mit »Herr Wachhabender« an. Plötzlich geht die Tür auf, ausgerechnet die Fünfzehn, zum Glück gehen die Türen hier nach außen auf, so daß der Mensch, der herauskommt, Jakob nicht sieht, weil er von der Tür verdeckt wird. Zum Glück auch läßt der Mensch die Tür offen, er wird gleich zurückkommen, wenn man glaubt, daß man unter sich ist, läßt man die Türen offen, und Jakob hat seine Deckung. Drinnen spielt ein Radio, es knackt etwas, sicher einer von ihren Volksempfängern, aber keine Musik. Jakob hat, seit er in diesem Ghetto ist, keine Musik mehr gehört, wir alle nicht, nur wenn jemand gesungen hat. Ein Sprecher erzählt unwichtige Dinge aus einem Hauptquartier, irgend jemand ist nach seinem Tode zum Oberstleutnant befördert worden, dann kommt etwas über die gesicherte Versorgung der Bevölkerung, und dann erreicht den Sprecher soeben diese Nachricht: »In einer erbitterten Abwehrschlacht gelang es unseren heldenhaft kämpfenden Truppen, den bolschewistischen Angriff zwanzig Kilometer vor Bezanika zum Stehen zu bringen. Im Verlaufe der Kampfhandlungen, die von unserer Seite …«
Dann ist der Mensch wieder in seinem Zimmer, schließt die Tür, und das Holz ist zu dick. Jakob steht still, er hat viel gehört, Bezanika ist nicht sehr weit, kein Katzensprung, nein, aber nicht so unendlich weit. Er ist noch nie dort gewesen, hat gerade so etwas von Bezanika gehört, es ist eine ganz kleine Stadt, wenn man mit der Bahn über Mieloworno fährt, in Richtung Südosten, über die Kreisstadt Pry, wo sein Großvater mütterlicherseits eine Apotheke geführt hat, dort umsteigt in Richtung Kostawka, dann muß man irgendwann nach Bezanika kommen. Es sind vielleicht gute vierhundert Kilometer, vielleicht sogar fünfhundert, hoffentlich nicht mehr, und da sind sie jetzt. Ein Toter hat eine gute Nachricht gehört und freut sich, er würde sich gerne länger freuen, aber die Lage, der Wachhabende wartet auf ihn, und Jakob muß weiter. Der nächste Schritt ist der schwerste, Jakob versucht ihn, doch vergeblich. Sein Ärmel sitzt fest im Türspalt, der Mensch, der in das Zimmer zurückgekommen ist, hat ihn gefesselt, ohne die geringste böse Absicht, er hat einfach die Tür hinter sich geschlossen, und Jakob war gefangen. Er zieht vorsichtig, die Tür ist gut gearbeitet, sie paßt genau, keine überflüssigen Fugen, da könnte kein Blatt Papier durchrutschen. Jakob würde gerne das Stück Ärmel abschneiden, sein Messer liegt zu Hause, mit den Zähnen, von denen die Hälfte fehlt, hat es keinen Sinn. Er kommt auf den Gedanken, die Jacke auszuziehen, einfach ausziehen und eingeklemmt lassen, wozu braucht er jetzt noch eine Jacke. Er hat schon einen Ärmel abgestreift, da fällt ihm ein, daß er die Jacke doch noch braucht. Nicht für den kommenden Winter, wenn man hier ist, schreckt die nächste Kälte nicht, die Jacke wird für den Wachhabenden benötigt, falls er noch gefunden wird, für den Wachhabenden, der sicher den Anblick eines Juden ohne Jacke ertragen kann, Jakobs Hemd ist sauber und kaum geflickt, aber schwerlich den Anblick eines Juden ohne Stern auf Brust und Rücken (Verordnung Nr. 1).
Im letzten Sommer waren die Sterne auf dem Hemd, man kann die Nadelstiche noch sehen, jetzt aber nicht mehr, jetzt sind sie auf der Jacke.
Und er zieht sie wieder an, bleibt bei seinen Sternen, zerrt fester, gewinnt einige Millimeter, aber nicht genug. Die Lage ist, wie man so sagt, verzweifelt, er zieht mit aller Kraft, etwas reißt ein, das macht Geräusche, und die Tür geht auf. Jakob fällt auf den Gang, über ihm steht ein Mann, in Zivil und sehr verwundert, dann lacht er und wird wieder ernst. Was Jakob hier zu suchen hat. Jakob steht auf und wählt seine Worte sehr genau. Er ist nicht etwa nach acht auf der Straße gewesen, nein, der Posten, der ihn angehalten hat, hätte gesagt, es sei schon acht, und er soll sich hier beim Herrn Wachhabenden melden.
»Und da horchst du hier?«
»Ich habe nicht gehorcht. Ich war noch nie hier und habe nicht gewußt, in welches Zimmer. Deswegen wollte ich gerade hier klopfen.«
Der Mann fragt nicht weiter, er deutet mit dem Kopf tiefer in den Gang hinein. Jakob geht vor ihm her, bis der Mann »hier« sagt, es ist nicht das Zimmer des Amtsvorstehers. Jakob sieht den Mann an, dann klopft er. Der Mann geht wieder weg, aber von drinnen antwortet
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