Jeans und große Klappe
abgeliefert hatte.
Es ist wirklich bemerkenswert, was während einer siebenminütigen Bahnfahrt alles abhanden kommen kann. Angefangen hatte die Verlustserie mit Svens Atlas, den er beim Abschreiben als Unterlage benutzt und dann im Zug vergessen hatte. Kostenpunkt: 29,75 Mark. Als nächstes fehlte Saschas linker Turnschuh. Er war im Laufe einer handgreiflichen Auseinandersetzung aus dem offenen Abteilfenster geflogen. Preis: 20 Mark. Dann blieben ein Schal hängen und eine Wolljacke, der eine vermißte seinen Füller, der andere einen Pullover, und wie viele Handschuhe auf der Strecke geblieben sind, weiß ich schon gar nicht mehr. Nun war es zur Abwechslung mal ein Anorak.
»Mein Sohn, jetzt habe ich die Nase voll! Den neuen Anorak wirst du selbst bezahlen, und zwar werde ich ihn dir ratenweise vom Taschengeld abziehen!«
»Nee, also das geht nicht, weil das nämlich unsozial ist. Wenn ein Angestellter mal Mist baut und deshalb ein Auftrag oder so was in die Binsen geht, kürzt man ihm ja auch nicht gleich das Gehalt.«
»Wenn dieser Angestellte aber fortwährend Fehler macht, kündigt man ihm. Diese Möglichkeit habe ich leider nicht, also wirst du für deine Schusseligkeit jetzt mal selber geradestehen!«
Sascha paßte das überhaupt nicht. »Kannst du mir nicht lieber eine runterhauen?«
»Das hättest du wohl gerne?«
Jetzt mischte sich Sven ein: »Halte die Raten aber möglichst klein. Sascha wartet doch schon sehnsüchtig auf den Ersten, weil er seine Spielschulden bezahlen muß. Von dem, was ich noch von ihm kriege, will ich erst gar nicht reden.«
Ich hatte nur ein Wort verstanden. »Was für Spielschulden?«
»Der verliert doch dauernd beim ›Fuchsen‹, und nun steht er bei Wolfgang mit zwei Mark dreiundachtzig in der Kreide.«
Nun begriff ich überhaupt nichts mehr. »Und was ist … wie heißt das? ›Fuchsen‹ denn überhaupt? Spielt man das mit Karten?«
»Nee, mit Pfennigen. Ist auch ganz harmlos.« Sven erklärte mir bereitwillig die Regeln. So etwas Ähnliches hatte ich als Kind auch gespielt, allerdings mit Murmeln.
Spielschulden sind Ehrenschulden! Irgendwo hatte ich das mal gelesen, und in früheren Zeiten mußte man sich deshalb standesgemäß erschießen. Diese Gefahr bestand wohl hier noch nicht, aber Ehrbegriffe werden bereits von Jugendlichen gepflegt.
»Dann mache ich dir einen anderen Vorschlag.« Aber zuerst entriß ich meinem Zweitgeborenen die Mohrrübe, auf der er jetzt herumknabberte. »Gib her, die brauche ich für die Suppe. Wie wäre es also, wenn du das Geld abarbeiten würdest? Keller aufräumen, Unkraut jäten, und der Wagen könnte auch mal wieder eine gründliche Wäsche nebst Politur vertragen.«
Sascha sah mich an, als hätte ich von ihm verlangt, freiwillig Vokabeln zu lernen.
»Du meinst, ich soll richtig arbeiten? Nicht bloß mal Brot holen oder Garage ausfegen?«
»Genau! Nach dem Essen kannst du gleich anfangen. Am besten mit dem Unkraut!«
»Und meine Hausaufgaben?«
»Gib doch bloß nicht so an«, konterte Sven mitleidslos, »die schreibst du doch sowieso von mir ab.«
Obwohl Sven anderthalb Jahre älter ist als sein Bruder, gingen beide in dieselbe Klasse. Während des entscheidenden vierten Grundschuljahres hatte sich unser Ältester mehr für Regenwürmer und Mistkäfer interessiert als für die Oberrheinische Tiefebene, und sein Abschlußzeugnis hätte ihn eigentlich zum Besuch einer Sonderschule verpflichtet. Ob nun ein verspäteter Ehrgeiz oder sein gelehrter Freund Sebastian die Ursache war, weiß ich nicht, jedenfalls entwickelte der zurückgebliebene Knabe plötzlich einen unerwarteten Bildungseifer und schaffte mit einjähriger Verspätung doch noch den Sprung aufs Gymnasium.
Rolf hatte das sogar ganz praktisch gefunden. Ihm schwebte etwas von gegenseitiger Hilfe und Gemeinschaftsarbeit vor, was Sascha dann auch durchaus wörtlich nahm. Sven machte die Arbeit. und Sascha bewies Gemeinsinn, indem er sich völlig auf seinen Bruder verließ und vertrauensvoll alles von ihm abschrieb. Und was der nicht wußte, das wußte dann eben ein anderer. So war Sascha immer der erste vor Unterrichtsbeginn in der Schule und wartete auf den zweiten, von dem er abschreiben konnte.
Mein Sohn arbeitete also seine Schulden ab. Er strich den Gartenzaun oder wenigstens Teile davon, und auch die nur auf einer Seite. Er räumte den Keller auf, das heißt, er stapelte alles in einer Ecke übereinander und erweckte so den Anschein, als habe er enorm viel Platz
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