Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer
Lukas.
Kurz entschlossen stieg er aus und ging dem Riesen winkend entgegen.
Jim verschwamm vor Entsetzen alles vor den Augen. Vielleicht hatte Lukas einen Sonnenstich bekommen? Aber wie auch immer, Jim konnte seinen Freund Lukas unmöglich allein in eine solche Gefahr hineinlaufen lassen. Also stieg er ebenfalls aus und rannte hinter Lukas her, obwohl ihm dabei die Knie zitterten.
»Warte doch, Lukas!« keuchte er. »Ich komm’ mit!«
»Na, siehst du!« sagte Lukas und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Das ist schon viel besser! Angst taugt nämlich nichts. Wenn man Angst hat, sieht meistens alles viel schlimmer aus, als es in Wirklichkeit ist.«
Als der Riese sah, wie der Mann und der kleine Junge aus der Lokomotive ausstiegen und winkend auf ihn zukamen, wurde ihm klar, daß er wirklich unbesorgt sein durfte. Sein unglückliches Gesicht hellte sich auf.
»Also, Freunde«, rief er mit seiner dünnen Stimme, »dann komme ich jetzt!«
Und damit setzte er sich in Bewegung und schritt auf Jim und Lukas zu. Aber was nun geschah, war so erstaunlich, daß Jim Mund und Nase aufsperrte und Lukas an seiner Pfeife zu ziehen vergaß.
Der Riese kam Schritt für Schritt näher, und bei jedem Schritt wurde er ein Stückchen kleiner. Als er etwa noch hundert Meter entfernt war, schien er nicht mehr viel größer zu sein als ein hoher Kirchturm. Nach weiteren fünfzig Metern hatte er nur noch die Höhe eines Hauses. Und als er schließlich bei Emma anlangte, war er genauso groß wie Lukas der Lokomotivführer. Er war sogar fast einen halben Kopf kleiner. Vor den beiden staunenden Freunden stand ein magerer alter Mann mit einem feinen und gütigen Gesicht.
… dann schwoll es immer mehr an: »Es ist doch ganz still! - Es ist doch ganz still! - Es ist doch ganz still!«
»Guten Tag!« sagte er und nahm seinen Strohhut ab. »Ich weiß gar nicht, wie ich euch danken soll, daß ihr nicht vor mir weggelaufen seid. Seit vielen Jahren schon sehne ich mich danach, daß einmal jemand so viel Mut aufbringen würde. Aber niemand hat mich bis jetzt näherkommen lassen. Dabei sehe ich doch nur von ferne so schrecklich groß aus. Ach, übrigens - ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen: Mein Name ist Tür Tür. Mit Vornamen heiße ich Tür und mit Nachnamen auch Tür.«
»Guten Tag, Herr Tür Tür«, antwortete Lukas höflich und nahm seine Mütze ab, »mein Name ist Lukas der Lokomotivführer.« Er ließ sich seine Verwunderung kein bißchen anmerken und tat, als sei die sonderbare Begegnung ganz selbstverständlich. Lukas war eben wirklich ein Mann, der wußte, was sich gehört!
Nun raffte sich auch Jim auf, der Herrn Tür Tür noch immer mit offenem Mund angestarrt hatte und sagte: »Ich heiße Jim Knopf.«
»Ich freue mich wirklich ungemein«, sagte Herr Tür Tür, diesmal zu Jim gewendet. »Vor allem darüber, daß ein so junger Mann wie Sie, mein lieber Herr Knopf, schon so außergewöhnlich beherzt ist. Sie haben mir einen bedeutenden Dienst erwiesen.«
»Oh … ach … ich … eigentlich … «, stotterte Jim und errötete unter seiner schwarzen Haut bis an beide Ohren. Er schämte sich plötzlich ganz gewaltig, denn in Wahrheit war er ja durchaus nicht mutig gewesen. Und im stillen nahm er sich vor, nie wieder vor irgend etwas oder irgendwem Angst zu haben, bevor er ihn oder es nicht aus der Nähe betrachtet hätte. Man konnte ja nie wissen, ob es nicht so ähnlich war wie mit Herrn Tür Tür. Er gab sich in Gedanken selbst das Ehrenwort, immer daran zu denken. »Wissen Sie«, sagte Herr Tür Tür jetzt wieder zu Lukas, »in Wirklichkeit bin ich nämlich gar kein Riese. Ich bin nur ein Scheinriese. Aber das ist eben das Unglück. Deshalb bin ich so einsam.«
»Das müssen Sie uns näher erklären, Herr Tür Tür«, entgegnete Lukas. »Sie sind nämlich der erste Scheinriese, dem wir begegnen, müssen Sie wissen.«
»Ich will es Ihnen gern erklären, so gut ich kann«, versicherte Herr Tür Tür. »Aber nicht hier. Darf ich mir erlauben, meine Herren, Sie in meine bescheidene Hütte zu Gast zu laden?«
»Wohnen Sie denn hier?« fragte Lukas erstaunt. »Mitten in der Wüste?«
»Allerdings«, antwortete Herr Tür Tür lächelnd, »ich wohne mitten im ›Ende der Welt‹. Nämlich bei der Oase.«
»Was is’ eine Oase?« fragte Jim vorsichtig. Er befürchtete schon wieder irgendeine Überraschung.
»Oase«, erklärte Herr Tür Tür, »nennt man eine Quelle oder eine andere Wasserstelle in der Wüste.
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