Joe Golem und die versunkene Stadt
sie fort.«
Felix schnalzte mit der Zunge. »Du wirst nichts dergleichen tun. Ich habe nicht mehr viele Kunden. Wenn wir weiterhin etwas zu essen haben wollen, kann ich die wenigen Leute, die noch zu mir kommen, nicht abweisen.«
Molly drückte Felix’ Hand. Das rote Haar war ihr in die Augen gefallen, doch sie ließ sich nicht davon ablenken und konzentrierte sich ganz auf ihn.
»Ich bin deine Assistentin«, sagte sie. »Das bedeutet, ich bin für dich verantwortlich.« In ihrer Brust spürte sie ein unruhiges Stechen. »Du brauchst Ruhe.«
»Morgen«, sagte Felix. Sein Blick wurde weich, und sein Lächeln war zum ersten Mal aufrichtig. »Ich fahre nach Brooklyn, dann fühle ich mich besser. So ist es noch jedes Mal gewesen.«
»Versprichst du es?«
»Bleibt mir eine Wahl?«
Molly ließ seine Hand los und verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein.«
»Voilà. Ich verspreche es. Morgen Brooklyn. Und heute zaubern wir ein wenig. Mal schauen, was die Geister zu sagen haben.«
Molly nickte, für den Moment zufrieden, doch noch immer machte sie sich Sorgen um den alten Mann.
»Na schön, junge Dame«, sagte Felix und wies durch die Tür auf die Stufen. »Geh du voran.«
Irgendetwas war schiefgegangen.
Molly stand in einer dunklen Ecke und beobachtete die Séance. Felix’ verzerrtes Gesicht gefiel ihr ganz und gar nicht. Er sah aus, als wäre er in einem Traum voller Qualen und Angst gefangen, aus dem er sich nicht losreißen konnte. Seine Kunden, die Mendehlsons, saßen mit ihm am runden Tisch. Alle drei hielten sie sich bei der Hand und bildeten die Ecken einer okkulten Pyramide. Mrs. Mendehlson – Sarah mit Vornamen – hielt die Augen geschlossen, so wie Felix sie gebeten hatte.In ihrem Gesicht stand hoffnungsvolle Erwartung. Felix war es schon oft gelungen, den Geist ihres Sohnes David herbeizurufen. David Mendehlson hatte beim Einsturz eines unter Wasser liegenden Gebäudes in Downtown, wo Narren und Adrenalinjunkies gern zwischen den Ruinen versunkener Gebäude tauchten, den Tod gefunden.
Einmal hatte Felix sogar den Geist von Sarah Mendehlsons Vater aufgespürt, der in seinem Apartment auf der East 25 th Street an Krebs gestorben war, nachdem er sich geweigert hatte, die Versunkene Stadt zu verlassen und in ein Krankenhaus in Uptown zu gehen. Man hätte ihn zwar nicht mehr heilen können, aber er hätte vielleicht noch ein paar Jahre gelebt, und auf jeden Fall hätte er weniger Schmerzen erdulden müssen. Felix hatte mit dem Geist des Mannes Kontakt aufgenommen, und er hatte seiner Tochter versichert, seine Entscheidung nicht zu bereuen.
Anders als seine Frau glaubte Mr. Mendehlson nicht an Felix’ mediale Fähigkeiten. Ganz gleich, wie oft der Beschwörer seiner Frau Dinge offenbart hatte, die außer ihr nur ihre verstorbenen Angehörigen wissen konnten – Mr. Mendehlson wollte sich einfach nicht überzeugen lassen.
Als Molly ins Felix’ Dienste getreten war, hatte sie ihre eigenen Zweifel am Spiritismus gehegt, mehr als nur Zweifel sogar. Sie hatte Felix für einen alternden Bauernfänger gehalten, der sich gut darauf verstand, Narren das Geld aus der Tasche zu ziehen. Molly kannte solche Schwindler aus der Zeit, als sie auf der Straße gelebt hatte; sie hatte mehr als genug Typen von dieser Sorte kennengelernt. Doch mit der Zeit hatte sie erkennen müssen, dass Felix’ Gabe tatsächlich existierte, denn sie hatte Dinge gesehen, die einfach nicht zu erklären waren und die sie überzeugt hatten. Dadurch waren ihr Vertrauen und ihre Zuneigung zu Felix weiter gewachsen.
Mittlerweile hatte Molly ihm so oft bei der Arbeit zugeschaut, dassihr Glaube an seine übersinnlichen Fähigkeiten unerschütterlich geworden war. Die Wahrhaftigkeit seines Wirkens rührte von seiner völligen Ergebenheit gegenüber den Geistern her, die mit ihm kommunizierten. Vielleicht wollte Mr. Mendehlson die Wahrheit nicht akzeptieren, weil Felix früher als Bühnenzauberer aufgetreten war und den Leuten geschickte Täuschungen dargeboten hatte. Oder schmerzte es Mr. Mendehlson zu sehr, dass der Geist seines Sohnes noch im Äther verweilte, der die Versunkene Stadt umschloss, und zum Weiterziehen noch nicht bereit war? Molly wusste es nicht.
Nachdem sie erkannt hatte, dass Felix tatsächlich mit den Geistern der Toten zu reden vermochte, ließ ihr der Gedanke keine Ruhe mehr, dass rings um sie her Geister sein konnten, immer und überall, ohne dass sie davon wusste. Es war eine Vorstellung,
Weitere Kostenlose Bücher