Judassohn
Deutschland. Sie wollte keinen Haftbefehl mit ihrem Gesicht darauf sehen.
Sia schauderte.
Vorbei. Alles ist geregelt und erledigt.
Dennoch beabsichtigte sie, ihr übliches Leben als Sitzwache im Krankenhaus bei den Todkranken und mit Türsteherjobs aufzugeben, so wie sie es sich geschworen hatte. Bald. Die notwendigen Vorbereitungen liefen schon.
Die gelegentlichen illegalen Cage-Fights hatte Sia bereits sein lassen müssen, auch wenn das Geld geflossen war. Dort hatte sie Dampf abgelassen, sich ihren Schuss Adrenalin geholt. Eine wichtige Einkunftsquelle weniger.
Wenn die Euros knapp werden, muss ich doch noch eine Bank überfallen.
Sie grinste.
Verlockend. Wer sollte mich aufhalten?
Die Uhren am Rathaus und an den Kirchen schlugen viermal, gleich darauf dreimal.
Zeit zu gehen.
Sie brauchte noch ein paar Geschenke für ihre besonderen Freunde, ein Mädchen und deren junge Mutter. Wobei »Freunde« der falsche Ausdruck war. Es gab ein verwandtschaftliches Verhältnis zwischen ihnen, von dem nur Sia etwas wusste. Seit Jahren beobachtete sie die beiden und wachte über sie.
Unter Verwandten half man einander. Und so hatte Sia dafür gesorgt, dass der nervende, gewalttätige Ex-Mann der jungen Mutter auf ungewöhnliche Weise für immer verschwand: Sie hatte Blitze befohlen, ihn auf offener Straße in ein rauchendes Bündel zu verwandeln.
Ein starker Blitz kochte einen Menschen, brachte das Wasser in ihm zum Verdampfen und verbrannte die Haut, überlastete die empfindlichen Synapsen durch Tausende Volt. Manchmal fingen die Haare und die Kleidung Feuer.
Weil ein Mensch aber einen Blitz durchaus überleben konnte, hatte es Sia nicht bei einem Einschlag belassen.
Lightning never strikes twice,
sagte ein britisches Sprichwort. Wenn sie in der Nähe war, schlug er ein, sooft sie wollte. Dieser Teil der Natur gehorchte ihr. Als Judastochter vermochte sie mehr aus- und anzurichten als ein herkömmlicher Vampir.
Der Typ war ein Arschloch. Den spektakulären Abgang hatte er nicht mal verdient.
»Ich gehe«, sagte sie zu Jochen, der eben die Stufen hinaufeilte und eine Gasflasche schleppte. »Warte mit der Zigarette wenigstens, bis ich weggefahren bin. Und pass mit dem Gas auf. Sonst ist Rauchen tödlicher, als es der Slogan auf deiner Packung gemeint haben kann.«
»Dann würde er wenigstens unbestreitbar passen«, erwiderte er grinsend. »Schönen Abend.«
Sia ging an ihm vorbei, die Treppe hinab und in das Gewölbe, das ihr tropisch heiß erschien. Neben der Garderobe für die Gäste gab es den kleinen Lagerraum fürs Personal. Sie holte ihren Rucksack, verließ die Moritzbastei durch den Nebenausgang und gelangte in die Querstraße, wo die Hayabusa auf sie wartete.
Was bringe ich ihnen mit?
Sie wischte den Schnee vom Sitz und zog die Mütze tiefer über die Ohren, setzte die Schweißerbrille gegen den Fahrtwind vor die Augen. Auf einen Helm verzichtete sie. Sie wusste, dass sie nicht bei einem Motorradunfall ums Leben kommen würde.
Mal sehen, was die Tankstellen zu bieten haben. Oder ich kaufe erst morgen ein.
Während Sia aufsaß und den Schlüssel ins Schloss steckte, mahnte sie sich, den neuen Ausweis bald zu besorgen.
Durch Mareks Erscheinen hatte sich nicht nur ihr Leben verändert, sondern auch ihre Einstellung zur Vergangenheit.
Sie akzeptierte, dass sie eine Judastochter war, und wollte ihre Herkunft nicht länger verleugnen. Ihre Haare schimmerten dunkelrot, sie färbte sie nicht mehr schwarz. Ihre Arbeitskollegendachten genau das Gegenteil: Eine derartig intensives Rot hielt keiner für echt.
Blieb die Sache mit dem Blut. Als Vampirin musste und wollte sie trinken, aber bitte ohne zu großes Aufsehen.
Wozu arbeite ich im Krankenhaus?
Schrankweise lagerte dort Nahrung, gut gekühlt und nach Blutgruppen geordnet. Nicht originell, sich auf dem Weg sein Essen zu besorgen. Aber effizient.
Und leicht.
Zwar gab es im Internet verschiedene Plattformen von Menschen, die sich als Blutspender für Vampire anboten. Es war ganz einfach, die Seiten im Netz zu finden.
Black Swans,
schwarze Schwäne — der gebräuchlichste Ausdruck für solche Leute. Doch
das
war ihr zu gefährlich. Dennoch staunte sie über diese Offerten. Der Glaube an ihre Art war nicht verschwunden.
Sias Gedanken kehrten zu ihren Vorbereitungen auf das neue Leben zurück. Ganz oben auf der Liste stand der Ausweis, auch wenn sie dem Stress mit der Polizei bisher aus dem Weg gegangen war. Eine neue Identität musste her. Damit würde sie
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