Kalte Haut
wieder leid. Aber so leicht wollte sie ihren Neffen nicht davonkommen lassen. Erwartungsvoll blickte sie auf ihn hinab, während er sich noch fester an den Rock seiner Oma klammerte.
»Jetzt schau ihn nicht so finster an«, tadelte sie Sera. »Eldin ist gekommen, um sich zu entschuldigen.«
Schon möglich, aber warum gab der Knirps dann keinen Ton von sich? Er sah Sera ja noch nicht einmal an.
Annecim streichelte ihm durchs schwarze Haar. »Eldin, nun sag schon.«
»Üzgünüm«, presste der Junge hervor. »Entschuldigung.«
Kaum war das Wort über seine Lippen gekommen, flitzte er ins Wohnzimmer.
»Sei ihm nicht mehr böse«, lächelte ihre Mutter.
»Aber das war meine Lieblingsvase! Aus Australien!«
»Und Eldin ist dein Neffe. Außerdem freut er sich jede Woche auf dich.«
»Weil ich seine Tante bin? Oder weil er meine Wohnung zertrümmern darf?«
»Seray, du weißt, dass …«
»Ja, Annecim, ich weiß.« Sie nahm ihre Mutter in den Arm und drückte sie fest an sich. Sera überragte sie um einen ganzen Kopf, trotzdem hatte sie das Gefühl, als müsse sie zu ihr hinaufschauen. Sie konnte ihrer Mutter einfach nicht böse sein. »Und ja, ich freue mich auch jede Woche auf euch.«
Wirklich, Sera mochte das regelmäßige Beisammensein ihrer Familie, ganz ohne die Männer. Sie genoss den schwarzen Tee, den ihre Mutter aufsetzte; die Oliven und den Schafskäse, den ihre Schwester Deniz frisch vom Gemüsemarkt am Maybachufer mitbrachte; die Sucuk aus der Schlachterei von Kayras Mann und das Fladenbrot aus der Bäckerei, in der Seras Tante Fehime arbeitete. Sie lauschte sogar leidlich interessiert dem Klatsch und Tratsch, den die anderen über Verwandte und Bekannte austauschten.
Aber ebenso froh war Sera, wenn der Trubel am Nachmittag wieder vorbei war und sie in ihr eigenes Leben zurückkehren konnte. Dann störte sie nicht einmal mehr der giftgrüne Teppich, auf dem ihr kleiner Neffe am Morgen noch von einer großen Karriere in der Turkcell Süper Lig geträumt hatte.
»Kinder sind so. Vielleicht solltest du ja auch …?« Annecim entwand sich dem Griff ihrer Tochter, nahm einen Löffel und rührte das Melemem in der Pfanne um. Auch ohne dass sie den Satz beendet hatte, war klar, worauf sie anspielte.
Zum Glück klingelte in diesem Moment Seras iPhone. »Ja, bitte?«
»Gerry hier.«
Du hast mir gerade noch gefehlt.
»Weißt du, worauf ich heute Bock habe?«
2
Um fünf Uhr morgens war Robert plötzlich hellwach. Er wälzte sich noch eine Weile auf der Matratze herum, doch er konnte nicht in den Schlaf zurückfinden. Verfluchter Jetlag. Der Flug von Los Angeles nach Berlin hatte offiziell dreizehn Stunden gedauert, während auf seiner Uhr vierundzwanzig vergangen waren. Roberts Zeitempfinden stand kopf.
Irgendwann, vor dem Fenster war es längst hell geworden, sprang er entnervt aus dem Bett, stolperte über seine Schuhe, die mitten im Hotelzimmer lagen, und spähte an der Gardine vorbei nach draußen. Eine dichte graue Suppe hatte sich über der Stadt zusammengebraut.
Er klaubte Klamotten aus seinem Koffer, der nicht groß war, die Auswahl war dementsprechend gering. Robert schlüpfte in T-Shirt, Jeans und Socken vom Vortag und warf sich seine einzige Jacke über. Zum Glück verfügte der dunkelbraune Parka, den er vor ein paar Monaten in einem Schaufenster der Chinatown in San Francisco entdeckt und gleich gekauft hatte, über eine Kapuze. Draußen fiel Nieselregen auf die Dächer. Genau das richtige Wetter für sein heutiges Vorhaben.
Aber unabhängig davon hätte sich Robert einen angenehmeren Empfang bei seiner Rückkehr gewünscht. Der Sprühregen, der seinen Parka bereits durchnässte, kaum dass er das Maritim zur Friedrichstraße verlassen hatte, war nur wenig einladend. Und munter machte er auch nicht. Vielleicht hätte er doch einen Kaffee trinken sollen. Aber er hatte das Frühstücksbüfett verschmäht, weil er keinen Appetit hatte.
Mit einem Gähnen kehrte er bei Starbucks ein und fühlte sich sofort in die Staaten zurückversetzt. Der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war, als die Verkäuferin ihn auf Deutsch nach seinen Wünschen fragte.
Mit einem Deckelbecher mit Kaffee in der Hand eilte er zur S-Bahn-Station, um ein Monatsticket zu lösen. Erst danach entdeckte er den Aushang, dem zufolge die Züge zurzeit nur jede halbe Stunde oder in noch größeren Abständen verkehrten. Der Grund dafür war dort nicht angegeben. Dem Berliner Kurier , der an einem Kiosk auslag,
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