Rosa Luxemburg - Im Lebensrausch, trotz alledem.
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|9| VORWORT
Rosa Luxemburg gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Klein, dunkelhaarig, eher unauffällig,
faszinierte sie durch sprechende Augen, natürlichen Charme, mitreißendes Temperament und den Geist ihrer originären Publizistik
und massenwirksamen Rhetorik. Sie sprühte vor Ideen, war außergewöhnlich gebildet, vielseitig talentiert und – ehrgeizig.
Das ermöglichte es ihr, sich als emanzipierte Frau zu behaupten, ohne an Situationen der Ohnmacht und persönlichen Niederlagen
zu zerbrechen. Ihr Wunsch nach einer Familie blieb unerfüllt.
Rosa Luxemburgs Leben war aufreibend und konfliktreich. Sie kämpfte für eine bessere Welt. Ihr Ideal war ein Sozialismus,
der vom Volk mitgestaltet wird, auf uneingeschränkter Freiheit und Demokratie basiert und einen dauerhaften Frieden garantiert.
Die selbstbewußte Marxistin beeindruckte durch umfassende Geschichtskenntnisse und gründliche Gesellschaftsanalysen. In den
von ihr mitbegründeten oder beeinflußten Parteien der internationalen sozialistischen Bewegung trat sie entschieden gegen
Dogmatismus und Formalismus auf. Der Oppositionskraft ihrer Anhänger vertrauend, attackierte sie den Kapitalismus unablässig
als Quelle der sozialen Ungerechtigkeit und politischen Reaktion, der nationalen Zwietracht und des Krieges. Ihre scharfe
Polemik forderte Widerspruch und Haß heraus. Doch außergewöhnlicher Realitätssinn und kreative Kritik verhalfen Rosa Luxemburg
zu Prognosen, die sich bewahrheitet haben. Im Widerspruch dazu stehen einzelne grundsätzliche Irrtümer und manche von ihr
vehement verteidigte Illusion.
Auf der Suche nach Glück und Erfolg gewann und verlor sie Freunde und Geliebte, erfuhr Zuneigung, Enttäuschung und Mißachtung
– auch in den eigenen Reihen. Im privaten wie im |10| politischen Leben stellte sie an sich und andere hohe Ansprüche. Obgleich sie Geselligkeit liebte, flüchtete Rosa Luxemburg
doch oft in die Einsamkeit. Sie konnte freundlich und grob, verständnisvoll und jähzornig, heiter und trübsinnig, bescheiden
und überheblich, einsichtig und streitbar, nüchtern und beseelt sein. Literatur, Malerei und Musik waren ihr ebenso unverzichtbar
wie Reisen in ferne Länder. Sie vertiefte sich in fremde Kulturen wie in die heimische Pflanzen- und Tierwelt. In vielen ihrer
zum Teil mit schonungsloser Offenheit geschriebenen poetischen Briefe suchte sie Zuflucht aus täglicher Bedrängnis und führte
Zwiegespräche mit Freunden und Gegnern nach der Maxime: »Wer innerlich wirklich reich und frei ist, kann sich doch jederzeit
natürlich geben und von seiner Leidenschaft mit fortreißen lassen, ohne sich untreu zu werden.« 1
Persönlichkeit und Erbe Rosa Luxemburgs haben viele Biographen in ihren Bann gezogen. 2 Die einen wollten wie Elz-. bieta Ettinger »einen weithin unbekannten Menschen, dreifach stigmatisiert: als Frau, als Jüdin
und als Krüppel« 3 porträtieren. Andere wie Peter Nettl, Gilbert Badia oder Georg W. Strobel fesselte zwar die ganze Rosa Luxemburg, dennoch
setzten sie zeitgeschichtlich bedingte Schwerpunkte. Peter Nettl, der sich 1968 über den »Mischmasch aus Ideen von Lenin,
Mao, Castro, Sartre, Marcuse und Rosa Luxemburg« in den oppositionellen Bewegungen Ost- und Westeuropas wunderte, orientierte
sich z. B. auf die »Prophetin
par excellence
der uninstitutionalisierten Revolution«. 4 Wieder andere, so Lelio Basso, Ossip K. Flechtheim, Iring Fetscher, Georges Haupt, Oskar Negt, Ernest Mandel und Christel
Neusüß, konzentrierten sich auf Rosa Luxemburgs Theorien oder einzelne ihrer Axiome, die sie ins Verhältnis zu Marx und anderen
Gelehrten setzten. Luise Kautsky und Henriette Roland Holst-van der Schalk formten ihre stimmigen Porträts aus persönlichen
Erinnerungen an Rosa Luxemburg. Paul Frölich, Feliks Tych, Helmut Hirsch, Aleksander Kochański, Narihiko Ito, Frederik Hetmann
vermittelten einem breiten Publikum Zugang zu ihr. Max Gallo huldigte der »Märtyrerin für eine Utopie« 5 . Selektiv verfuhren in der Regel jene, die Rosa Luxemburg ideologielastig in die kommunistische oder in die sozialdemokratische
Parteitradition integrierten. 6
Manche, die wie Günter Radczun und ich Rosa Luxemburg |11| anläßlich ihres 100. Geburtstags dem Verdammungsurteil Stalins über den »Luxemburgismus« entrissen, verstrickten sich in Widersprüche,
weil Rosa Luxemburgs Denken und Handeln vorwiegend an Lenin
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