Kein Weg zurück
spürte. Es war eine sanfte Geste. Josephine sah ihn an und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen. Die ganze Klasse war auf einen Schlag still und beobachtete die ungewohnte Situation. Er setzte sich neben Josephine und seinen drei „Peinigern“ fielen die Kinnladen herunter. Josephine war es egal, sie lächelte ihn an und fragte ihn, ob er noch gut nach Hause gekommen wäre und wie seine Eltern reagiert hätten. Auf der einen Seite empfand Jonathan große Erleichterung, dass sie noch mit ihm redete, auf der anderen Seite war diese Situation sehr ungewohnt und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Eigentlich war es eine sehr interessante Stunde, doch er konnte sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Josephine schien kein Interesse an Physik zu haben, sie kritzelte auf ihrem Heft herum und beteiligte sich nicht am Geschehen. Er sah, dass sie ein Stück Papier einfach aus ihrem Heft riss und etwas darauf schrieb. Sie schob ihm den Zettel zu. Er vergewisserte sich erst, ob ihn keiner beobachtete, dann öffnete er den Zettel:
Lust auf See? Heute Nachmittag?
Er verspürte eine große Vorfreude und nickte ihr zu.
„ Ich dachte, du wolltest lernen?“
Josephine und Jonathan saßen wieder auf dem Steg wie am Tag zuvor. „Ich habe eigentlich keine Lust, zu lernen. Ich sollte es, ich weiß, aber ich kann nicht. Lass uns einfach nur den Tag genießen.“
Sie lächelten sich an und hörten Musik vom iPod, jeder einen Stöpsel im Ohr. Ihr gefielen die Beatles, Tina Turner, Janis Joplin und die alten Songs von Madonna. Sie hatte ihren eigenen Geschmack und hielt nichts von Casting-Bands. Sie wollte die Wirklichkeit und die war eben meistens Scheiße. Sie drehte sich zur Seite und sah ihn an. Es gefiel ihm, mit ihr hier in Frieden zu liegen und Musik zu hören. Es war der schönste Moment seines bisherigen Lebens und er wollte nicht, dass er jemals endete. Doch wie immer bei schönen Momenten im Leben schritt die Zeit einfach viel zu schnell voran und schon saßen sie wieder in der U-Bahn auf dem Weg in die Stadt. Josephine war seltsam, sie redete nicht und die Verabschiedung war kühl und gleichgültig. Jonathan ging geknickt nach Hause und wusste nicht, was er falsch gemacht hatte.
Die nächsten Tage waren regnerisch und trüb, doch nicht nur das Wetter machte eine Wende, auch die Stimmung von Jonathan wurde trüber. Josephine kam plötzlich zwei Wochen lang nicht zur Schule und Jonathan fiel in alte Verhaltensmuster zurück. Anstatt sie anzurufen oder sich zu erkundigen, wie es ihr ginge, verbrachte Jonathan die Nachmittage vor dem Fernseher und war bedrückt. Währenddessen machte Josephine die schwerste Zeit ihres Lebens durch, denn ihre Mutter war verstorben – an einer Überdosis Heroin. Sie war in ihrer Einzimmerwohnung gefunden worden, in der sie bereits fünf Tage tot gelegen hatte, was niemandem aufgefallen war. Josephine verbrachte die Tage auf ihrem Zimmer und dachte über sich und ihre Mutter nach. Seit zwei Jahren hatten sie sich nicht mehr gesehen, doch geliebt hatte Josephine ihre Mutter abgöttisch. Sie dachte auch an Jonathan, der ihr komischerweise ein Gefühl von Vertrautheit und Sicherheit gab, doch der sich die ganze Zeit nicht bei ihr meldete. Der Tag, an dem sie erfuhr, dass ihre Mutter verstorben war, ging zu Ende, doch Josephine wollte noch etwas tun, etwas, das sie seit langem vorhatte. Sie schrieb einen Brief. Einen Brief an ihre Mutter, der ihre ganzen Gefühle zum Ausdruck brachte.
Jonathan traute seinen Augen nicht, als Josephine genau zwei Wochen, nachdem sie das erste Mal gefehlt hatte, wieder in die Klasse kam. Sie sah dünn und krank aus, doch ihr Anblick stimmte ihn fröhlich. Sie sah ihn nicht an, doch er würde sie fragen, das schwor er sich. Die ganze Mathestunde legte er sich einen Plan zurecht, wie er sie am besten zum Tanzabend in der Schule einlud. Er überhörte fast den Gong zum Ende der Stunde, doch als die anderen Schüler aufsprangen und aus dem Klassenzimmer stürmten, nahm er all seinen Mut zusammen.
„ Josephine?“
Sie war schon dabei, zu gehen, doch sie drehte sich um und lächelte, wie sie es immer tat.
„ Wie geht es dir? Bist du wieder gesund?“
„ Ja, ich hatte eine Grippe, aber jetzt geht es wieder.“
Sie erzählte ihm nichts von ihrer Mutter.
„ Ich…“, er machte eine Pause, bevor er weitersprach, „ich wollte dich fragen, ob du am Donnerstag mit mir zum Tanzfest gehen willst?“
„ Ja, klar, warum nicht? Wann
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