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Kind der Nacht

Kind der Nacht

Titel: Kind der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kilpatrick
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Alles schien so perfekt, bis sie den Brief fand.
    Ihr war zwar klar, dass er ihn versteckt hatte, dennoch blieb der nagende Verdacht, dass er sich vielleicht unbewusst wünschte, dass sie ihn finden sollte. Der Brief war an Phillip adressiert, Robs besten Freund, zugleich ihr ältester Bekannter in der Stadt. Rob hatte ihr gestanden, dass er vor ihrer Ehe bisexuelle Erfahrungen gesammelt hatte. Damit konnte sie leben, denn nun war es ja anders. Doch an der Art und Weise, wie er in dem Brief seine Gefühle schilderte, erkannte sie, dass er eine Affäre mit Phillip hatte. Die Sache lief schon seit langem, schon bevor er Carol kennengelernt hatte. Aber auch während ihrer Ehe hatte es unzählige andere Männer und Frauen gegeben. Rob schwor Phillip, dass er nun treu sei - und zwar ihm. Er bat ihn um Geduld, er versuche Carol beizubringen, dass er die Scheidung wolle. Er wolle lediglich vermeiden, ihr wehzutun.
    Und dann die Beschuldigungen und Tränen, die heftigen Wortwechsel, ihre Vorwürfe und seine Ausflüchte. Sie hatten sich gegenseitig angefleht und gebettelt, aber letztlich wies er sie nur zurück. Dieser Schmerz! Und schließlich die entsetzliche Wahrheit - Rob hatte sich bei einer Frau, die für sein Blatt schrieb, einer seiner vielen Affären, mit dem HlV-Virus infiziert und Phillip damit angesteckt. Phillip ließ sich dreimal hintereinander untersuchen, und jedes Mal war das Ergebnis positiv. Beide trugen sie den Virus in sich. Er hatte es erst vor Kurzem erfahren.
    Carol war am Boden zerstört. Wie in Trance zwang sie sich dazu, den Test zu machen. Er verlief negativ. Dann einen zweiten. Ebenfalls negativ. Doch ihr kam es so vor, als wolle Gott sich einen Witz mit ihr erlauben: Sie hatte Angst davor, sich ein drittes Mal testen zu lassen. Wozu?, dachte sie. Irgendwann wird sich zeigen, dass ich positiv bin. In der Klinik hatte man ihr versichert, dass es nicht zwangsläufig so kommen müsse. Es bestand eine Chance, dass sie sich nicht angesteckt hatte. Aber sie war gut im Recherchieren und informierte sich über den Virus. Aller Wahrscheinlichkeit nach infizierte Rob jeden, mit dem er mehr als einmal Geschlechtsverkehr hatte. Die zuversichtlichen Worte des Krankenhauspersonals beruhigten sie jedenfalls nicht; und ein positives Ergebnis würde sie niemals verkraften. Ihr war klar, dass sie nicht in der Lage wäre, mit einem derartigen Wissen weiterzuleben.
    Die Scheidung war zwar problemlos über die Bühne gegangen, den noch erwies sich das Ganze als eine einzige Qual. Ein Anwalt ihrer  Kanzlei vertrat sie in dem Prozess und bereitete ihrer Ehe ein  rasches Ende, genau wie sie es sich erhofft hatte. Sie war zwischen ihren Gefühlen hin- und hergerissen und wollte nur noch, dass es  endlich vorüber war.
    Ihr Teller wurde abgetragen. Sie entschied sich gegen das Dessert und nahm stattdessen einen Kaffee und einen Likör. Außer dem ihren war mittlerweile nur noch ein einziger Tisch besetzt.
    Ein Jahr lang hatte sie allein in ihrem gemeinsamen Haus gewohnt, sich von Tiefkühlkost ernährt, viel ferngesehen, weiter als Aushilfskraft gearbeitet und ansonsten nichts getan. Sie war durchs Examen gefallen - gleich zweimal hintereinander. Sie hatte den Schauspielunterricht schleifen lassen und den Kontakt zum Theater verloren. Ihre Freunde hatten sich immer seltener gemeldet und waren schließlich ganz weg geblieben. Sie hatte nichts dagegen unternommen. Sie hatte sich ziemlich schnell ans Alleinsein gewöhnt, und es hatte ihr sogar gefallen. Die wenigen Male, da jemand versucht hatte, sie zu verkuppeln, hatte sie stets eine Ausrede parat gehabt.
    Mit der Zeit hatte der Schmerz nachgelassen. An seine Stelle war eine dumpfe Taubheit getreten, erst nur eine ganz dünne Schicht, die sich jedoch zu einem regelrechten Panzer auswuchs. Und sie hatte nicht vor, ihn abzulegen.
    Während sie an ihrem Likör nippte, brachte der Kellner die Rechnung. Umständlich zählte sie die Francstücke ab, und da sie nicht wusste, ob das Trinkgeld bereits enthalten war, legte sie noch etwas dazu.
    Aus einer Laune heraus hatte sie allen Ernstes ihren Job gekündigt. Rob war bei all dem mehr als gut weggekommen. Sie hatte das Haus verkauft, ihren Wagen, überhaupt alles, was sie besessen hatte, und war auf Reisen gegangen. Wenn sie gut haushielt, würde ihr Geld drei Jahre reichen. Sie hatte keine Ahnung, was sie danach anfangen sollte, aber es war ihr, ehrlich gesagt, auch egal. Sie wollte

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