Kind der Nacht
nur weg, weit weg, und zusehen, ob sie ihrem Leben einen neuen Sinn geben konnte, ob sie etwas zu finden vermochte, was sie wiederbelebte; denn nun war ihr klar, dass ihr nicht allein die Scheidung zu schaffen machte und die Tatsache, dass er sie betrogen hatte. Sie hatte sich selbst etwas vorgemacht. Ihre Ehe war von Anfang an eine Farce gewesen. Im Rückblick erkannte sie dies deutlich. Sie hatten ihre Rollen gut gespielt, alle beide, aber nicht gut genug, nicht mit dem Herzen, und nun musste sie die Konsequenzen dafür tragen. Darum stellte sie nun alles infrage. Es ist schon komisch, dachte sie. Ich habe immer versucht, fair und ehrlich zu sein und immer alles richtig zu machen. Warum kommt es mir jetzt so vor, als hätte ich mein Leben weggeworfen?
Irgendwo hatte sie gelesen, selbst wenn der Test positiv ausfiel - was bislang noch nicht geschehen war -, hieß das noch lange nicht, dass die Krankheit auch zum Ausbruch kommen musste. Dann wäre sie lediglich eine Überträgerin. Doch von Tag zu Tag stieg die Zahl der Aidskranken. Bei ihr zeigten sich noch immer keine Symptome, und vielleicht hatte sie ja Glück. Doch kurz bevor sie weggefahren war, hatte Rob angerufen - sie hatten ein Kaposi-Sarkom bei ihm diagnostiziert. Die Nachricht hatte ihr einen fürchterlichen Schrecken versetzt. Sie war wütend und niedergeschlagen zugleich gewesen und von einer grenzenlosen Trauer erfüllt - um sich selbst, um Phillip und all die anderen, die Teil jener grauenhaften Kette geworden waren, die von Rob ihren Ausgang nahm. Es war ein Albtraum, der kein Ende nehmen wollte. Sie empfand keinerlei Bedauern darüber, dass ihr altes Leben, wie sie es kannte, zu Ende war; aber es gab nichts, was an seine Stelle treten konnte. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte.
Sie hatte gegessen, die Rechnung beglichen und trank ihren Cointreau aus. Außer ihr befand sich kein Gast mehr im Restaurant. Es gab keinen Grund, noch länger zu bleiben.
Draußen spürte sie den Wind kalt an den Beinen. Carol zog ihren Übergangsmantel enger um sich. In dieser Straße waren kaum Autos unterwegs und kein einziges Taxi. Sie überlegte, ob sie zurückgehen und fragen sollte, ob sie telefonieren könne, doch dann verloschen im Restaurant die Lichter, und als sie durch die Spitzenvorhänge spähte, konnte sie drinnen niemanden mehr ausmachen.
Nur einen Block weiter ist eine Hauptverkehrsstraße, beruhigte sie sich, außerdem werde ich ja von der Polizei beschattet.
Gegen den Wind ging sie die sanfte Steigung hinab auf die helleren Lichter zu. Doch noch bevor sie die nächste Ecke erreichte, hörte sie hinter sich einen Wagen. Ein Taxi. Sie winkte, und der Fahrer hielt.
»Ins Medoc Royal«, sagte sie, bereits im Einsteigen, und er fuhr sofort wieder an.
Carol hatte fast einen Liter Wein zu sich genommen, dazu den Likör, und war nun ein bisschen beschwipst. Sie ließ den Kopf gegen die Rücklehne sinken und schloss die Augen. Sofort sah sie wieder das Bild ihres Angreifers vor sich. Einen kurzen Moment lang öffnete sie die Lider, doch dann schlossen sie sich erneut.
Die Polizei hatte ihr nicht geglaubt, zumindest nicht, dass sie gesehen haben wollte, wie er den alten Mann in den Hals biss. Sie konnte es ja selbst kaum glauben. Es klang wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Es ergab keinen Sinn, und hätte ihr jemand erzählt, er habe zugesehen, wie jemand auf diese Weise ermordet wurde, hätte sie ihn für verrückt gehalten oder gedacht, er wolle sie auf den Arm nehmen.
Der strenge Geruch nach Zigarrenrauch drang ihr in die Nase und unterbrach sie in ihrem Gedankengang. Sie starrte auf den Hinterkopf des Fahrers und fragte sich, ob es sich wohl um den Polizisten handelte, der zu ihrer Bewachung abgestellt worden war.
Die Straßen, die an ihr vorüberzogen, wirkten nicht vertraut. Wie es aussah, fuhr er sie auf einem anderen, nicht ganz so direkten Weg zum Hotel. Sie warf einen prüfenden Blick aufs Taxameter. Es zeigte bereits sechzehn Francs an. Auf der Herfahrt hatte sie für die gesamte Strecke achtzehn Francs bezahlt. Offensichtlich nahm er eine längere Route, um den Preis in die Höhe zu treiben.
»Pardon«, sagte sie. Der Fahrer beachtete sie nicht. »Hören Sie, ich bestehe darauf, dass Sie den direkten Weg zum Hotel nehmen. Über die Pont de Pierre, s’il vous plait.«
Immer noch keine Antwort. Sie fragte sich, ob er überhaupt
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