Kinder der Stürme
noch etwas sagen, aber ein Geräusch ließ beide aufschauen. Bari stand in der Tür. Sie sah verängstigt aus.
Evan machte ein freundliches Gesicht, ging zu ihr und nahm sie auf den Arm. „Wir hatten Besuch“, sagte er und küßte sie.
„Da wir eh alle wach sind, soll ich Frühstück machen?“ fragte Maris.
Bari grinste und nickte. Evans Gesicht zeigte keine Reaktion. Maris drehte sich um und machte sich an die Arbeit. Sie wollte vergessen.
In den folgenden Wochen sprachen sie nur selten über Tya und die Fliegerversammlung, aber sie wurden regelmäßig mit Neuigkeiten versorgt, ohne darum zu bitten. Ein Ausrufer auf dem Dorfplatz von Thossi, die Ladenbesitzer und Reisenden, die Evan aufsuchten, damit er sie heilte oder ihnen einen Rat gab, sprachen vom Krieg, von den Fliegern und von dem kriegerischen Landmann.
Maris wußte, daß sich die Flieger von Windhaven auf Süd Arren versammelten. Die Landgebundenen dieser kleinen Insel würden jene Tage nie mehr vergessen, ebensowenig, wie die Bewohner von Groß und Klein Amberly die letzte Versammlung vergessen hatten. Über den Straßen von South Port und Arrenton, beides kleine staubige Städte, würde jetzt eine festliche Atmosphäre liegen. Weinhändler, Bäcker, Würstchenverkäufer und Händler würden von dem halben Dutzend nahe gelegenen Inseln in untauglichen Booten über die gefährliche See herbeieilen, um mit den Fliegern Geschäfte zu machen. Die Kneipen und Gasthäuser würden voll sein, überall würden Flieger sein, ganze Schwärme von ihnen würden die kleinen Städte überfluten. Maris sah sie in ihren Gedanken: die Flieger von Groß Shotan mit ihren dunkelroten Uniformen; kühle, blasse Artellianer mit silbernen Kronen über ihren Brauen, Priester des Himmelsgottes aus dem Süden, Flieger von den Äußeren Inseln und Ember, die seit Jahren niemand mehr gesehen hatte. Alte Freunde würden sich umarmen und nächtelang Geschichten erzählen. Ehemalige Liebende, die sich flüchtig anlächelten und auf ihre Art die Stunden der Dunkelheit verbrachten. Sänger und Geschichtenerzähler würden alte Weisen erzählen und aus der Situation heraus neue erdichten. Die Luft würde voll sein von Gerüchten, Prahlereien und Liedern. Sie würde nach Gewürzwein und gebratenem Fleisch duften.
All ihre Freunde würden da sein, dachte Maris. In ihren Träumen sah sie junge Flieger und alte, Einflügler und geborene Flieger, stolze und schüchterne, jene, die Probleme verursachten und die Nachgiebigen. Sie alle würden sich versammeln, und der Schein ihrer Flügel und ihr Lachen würde Süd Arren füllen.
Und sie würden fliegen.
Maris versuchte, nicht daran zu denken, aber die Gedanken kamen unbemerkt, und in ihren Träumen flog sie mit ihnen. Während sie schlief konnte sie den Wind spüren, der sie mit seinen vertrauten, zärtlichen Fingern zur Ekstase trieb. Um sie herum sah sie ihre Flügel. Hunderte von ihnen hoben sich helleuchtend gegen den dunkelblauen Himmel ab. Anmutig und ruhig zogen sie ihre großen Kreise. Ihre eigenen Flügel fingen das Licht der Sonne ein.
Sie glänzten und schillerten: ein tonloser Schrei der Freude. Sie sah wie sich die Flügel bei Sonnenuntergang blutrot gegen den orange-roten Himmel abhoben, dann nahmen sie einen Blauton an, und schimmerten wieder silbern, wenn das letzte Licht verschwunden war und nur die Sterne leuchteten.
Sie erinnerte sich an den Geschmack des Regens, an das Grollen fernen Donners, an den Anblick der See in der Morgendämmerung, kurz bevor die Sonne aufging. Sie erinnerte sich an das Gefühl, wenn sie rannte und Von der Fliegerklippe sprang und daran, wie sie Wind und Flügel beherrschte, um sich in der Luft zu halten.
Manchmal zitterte sie nachts und schrie laut auf, dann nahm Evan sie in den Arm und flüsterte ihr sanfte Versprechungen ins Ohr, aber Maris erzählte ihm nichts von ihren Träumen. Da er nie ein Flieger gewesen war und nie einer Fliegerversammlung beigewohnt hatte, hätte er sie nicht verstanden.
Die Zeit verging. Kranke kamen zu Evan, oder er ging zu ihnen. Sie starben oder wurden gesund. Maris und Bari arbeiteten an seiner Seite. Sie taten was sie konnten. Aber Maris bemerkte, daß sie mit ihren Gedanken oft nicht bei der Sache war. Einmal hatte Evan sie in den Wald geschickt, damit sie Süßlied, eine Kräuterpflanze, die Evan zur Herstellung von Tesis brauchte, sammeln sollte. Aber Maris merkte, daß sie nur über die Fliegerversammlung nachdachte, während sie durch den kühlen,
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