Kinder des Monsuns
dass man es sich leisten kann, denn die Einkaufstouren durch die Shopping-Malls bestimmen die soziale Stellung. Daher kann man bei Tiffany eine
tai tai
(die Gattin eines Reichen) und eine Sekretärin mit mittlerem Einkommen treffen, die den gleichen Schmuck kaufen. Der Ersten macht der Preis nicht das Geringste aus; Letztere ist bereit, monatelang in den billigsten Garküchen der Stadt zu essen und einige Monatslöhne hinzublättern, um ihn zu besitzen. Nichts ist zu teuer, wenn man sich damit zeigen kann, denn welchen größeren Schiffbruch könnte es in der Stadt der Möglichkeiten geben, als ein solches Schmuckstück nicht zu ergattern?
Ich frage mich, ob bei Hongkongs unglaublichem und bewundernswertem Fortschritt nicht etwas fürchterlich schiefgelaufen |287| ist. In seiner atemberaubenden Verwandlung von einem unbedeutenden Fischerdorf zum bedeutendsten Finanzzentrum Asiens und zu einem Symbol wirtschaftlicher Macht hat Hongkong seine Seele unter einem großen Einkaufszentrum begraben. Die Stadt hat dem Meer Land abgetrotzt, indem sie Tonnen von Beton in die Bucht kippte, doch immer nur, um noch weitere Immobilienprojekte zu verwirklichen, mehr Gebäude, neue Geschäftszentren zu errichten. An diesem Ort hat noch nie ein Park gegen ein gutes Immobiliengeschäft gewonnen. Alles geschieht immer nur, um noch mehr zu verdienen, noch mehr zu kaufen, ganz gleich, ob es ein bisschen oder viel mehr ist, ohne dass es je eine Rolle spielte, ob man deshalb weniger lebt – sei es ein bisschen oder viel weniger. Die Stadt ist hart, egoistisch und gleichgültig geworden.
In dieser Gleichgültigkeit ging Yun Man Hon verloren.
*
Am 24. August 2000 spielt Man Hon mit seiner Mutter dasselbe Spiel wie immer. Der Junge rennt weg, weit genug, um die Entfernung von seiner Mutter Yu Lai Wai Ling zu spüren, aber er bleibt in ausreichender Nähe, um sie nicht aus den Augen zu verlieren und jeden Moment zu ihr zurücklaufen zu können. Immer endet das Spiel damit, dass Man Hon stehen bleibt, sich umdreht und lachend darauf wartet, dass ihn seine Mutter einholt. Alles nur ein Scherz, sagen seine Augen, und dann geht es weiter.
Mutter und Sohn fahren auf einer Rolltreppe der Metrostation Yau Ma Tei zu den Umsteigebahnhöfen hoch. Man Hon läuft ein paar Schritte voraus, schlängelt sich zwischen den Menschen zu beiden Seiten des Geländers durch. Er hält einen Augenblick inne und blickt sich nach seiner Mutter um, die nachzukommen versucht, doch andere Fahrgäste blockieren ihren Weg. Oben angekommen, verschwindet der Junge aus Frau Yus Blickfeld.
»Man Hon, bleib, wo du bist, lauf nicht weg!«
In diesem Moment hält ein Zug, die Türen öffnen sich und Man
|288| Hon kommt auf die Idee, weiterzuspielen. Er läuft in einen der Wagons, der Lautsprecher gibt die nächste Station bekannt, die Türen schließen sich. Als Frau Yu am Zug ankommt, versucht sie, ihren Sohn durch die Scheiben zu entdecken und bittet schluchzend, jemand möge die Türen öffnen. Doch der Zug fährt ab.
Man Hon ist verloren gegangen.
*
Als ihr Kind zur Welt kam, waren Herr und Frau Yu – er Hongkonger Regierungsbeamter, sie Hausfrau –, der Meinung, dass es den ängstlichen und schweigsamen Charakter der Mutter geerbt haben musste, so auffällig still war es. Als er drei Jahre alt war und sein ein Jahr jüngerer Bruder anfing, Worte zu brabbeln, die sie vom älteren nie gehört hatten, stellte sich heraus, dass ihr Sohn autistisch war. In den folgenden Jahren der Behandlung, der endlosen Sonderschulstunden und Therapiesitzungen lernte das Kind nicht mehr als seinen Namen: Man Hon. Mit 15 steht der Junge mental auf der Entwicklungsstufe eines Zweijährigen, wenn sein Körper auch für sein Alter normal ausgebildet ist. Familie Yu hat sich an den Gedanken gewöhnt, dass sie sich immer um ihn wird kümmern müssen, denn das Schicksal hat ihn auf die Seite der Schwachen gestellt. Nie würde er für sich selbst sorgen können.
Doch nun hat er sie verloren und ist zum ersten Mal allein. Wer wird sich um ihn kümmern?
Man Hon ist nicht in irgendeinen Zug gestiegen, sondern in den, der zur Endstation Lo Wu fährt. Ohne es zu wissen, hat der autistische Junge eben jene Strecke genommen, auf der – in umgekehrter Richtung – unzählige chinesische Immigranten jahrzehntelang ihrem Traum von einem besseren Leben in Hongkong entgegenfuhren. Nun fährt er auf eine Grenze zu, die nicht mehr zwei Länder trennt, sondern »ein Land mit zwei Systemen«, wie die
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