Kinder des Wassermanns
Glieder sich bereits streckten, das sich aber immer noch in einer Locke ihres Haares festhielt und mit großen Augen in eine Welt hinausstarrte, die unfreundlich und fremd geworden war ... Erwachsene Männer und Frauen ohne Kinder standen abseits von diesem Haufen. Unter dem Seevolk war die Vaterschaft so gut wie immer bloße Vermutung und niemals von Wichtigkeit. Die Nachkommen wurden von den Müttern wie auch von den Liebhabern, die sie zur Zeit gerade hatten, den Freundinnen der Mütter und deren Liebhaber, im Grunde von dem ganzen Stamm aufgezogen.
Ausgenommen Agnetes Kinder natürlich ... Wie sie sich bemüht hatte, in ihnen den Sinn dafür zu erwecken, was sie für richtig und anständig hielt! Nachdem sie fortgegangen war, hatte Vanimen ihnen von ihrem menschlichen Erbe mitgegeben, was er konnte; schließlich hatte er im Laufe der Jahrhunderte einiges von Menschenart gelernt. Jetzt fragte er sich, ob er ihnen damit einen Dienst erwiesen hatte.
Wie dem auch sein mochte, diese hohlen Gesichter hier waren ihm zugewandt. Er mußte ihnen mehr anbieten als das leere Heulen des Winds.
Er füllte die Lungen und rief mit Donnerstimme: »Volk des untergegangenen Liri, hier müssen wir uns entscheiden, welchen Weg wir einschlagen wollen. Wenn wir blindlings umherziehen, werden wir sterben. Doch jede Küste, von der wir wissen, daß wir uns dort ernähren könnten, ist entweder für Wesen des Feenreichs verboten – die meisten sind es – , oder es gibt dort schon so viele von unserer Art, wie dort leben können. Wohin also sollen wir uns wenden?«
Ein junger Mann rief eifrig: »Brauchen wir eine Küste? Ich habe mich schon wochenlang im offenen Ozean ernährt.«
Vanimen schüttelte den Kopf. »Du könntest es nicht jahrelang tun, Haiko. Wohin wolltest du gehen, wenn du Ruhe oder eine Zuflucht brauchst? Wo wolltest du ein Heim errichten oder auch nur das dazu notwendige Material finden? Wir können die Tiefen für kurze Zeit aufsuchen, aber wir können nicht dort bleiben. Sie sind zu kalt, zu dunkel und zu unfruchtbar; Schlick bedeckt alles, was wir von Schären und Kliffs und Sandbänken ausgraben. Ohne einen wohnlichen Ort, und besonders ohne Werkzeuge und Waffen, wärest du nichts anderes als ein Tier, schlechter für das Leben gerüstet als der Hai oder der Mörderwal, die dich jagen und töten würden. Und noch eher als du würden die Kinder, die Hoffnung unseres Blutes, sterben. Nein, wir sind wie unsere Vettern, die Seehunde, wir brauchen die Erde und die Luft ebenso, wie wir das Wasser brauchen.«
Das Feuer, dachte er bei sich, war den Menschen vorbehalten.
Er hatte von den Zwergen gehört, aber der Gedanke, unter der Erde zu leben, ließ ihn schaudern.
Eine schlanke Frau mit blauem Haar ergriff das Wort. »Bist du sicher, daß wir in der Nähe keinen Ort finden können? Ich habe den Finnischen Meerbusen durchquert. An seinem Ende sind reiche Fischgründe, die niemand von unserer Art bewohnt.«
»Hast du jemals gefragt, warum, Meiiva?« entgegnete Vanimen. Überrascht antwortete sie: »Ich wollte es immer tun, doch dann habe ich es wieder vergessen.«
»Die sorglose Art des Feenreichs«, seufzte er. »Ich habe es herausgefunden. Es hat mich beinahe das Leben gekostet, und noch Jahre danach habe ich deswegen Alpträume gehabt.«
Die auf ihn gerichteten Blicke verloren ihre Stumpfheit. Das war wenigstens besser als die Gleichgültigkeit der Verzweiflung. »Die Sterblichen dort sind Russen«, erklärte er ihnen, »ein anderes Volk als die Dänen, Norweger, Schweden, Finnen, Letten und Lappen, die sonst in diesen Gegenden wohnen. Die Wesen der Halbwelt, die das Land mit ihnen teilen, sind ... ebenfalls anders: manche freundlich, aber andere unheimlich und noch andere fürchterlich. Mit einem Vodianoi könnten wir es vielleicht aufnehmen, aber eine Rousalka ...« Die Erinnerung fiel über ihn her, kälter als der Wind und der stärker werdend Regen. »Jeder Fluß scheint eine Rousalka zu haben. Sie tritt in der Gestalt eines Mädchens auf, und es heißt, sie sei früher einmal eines gewesen, bevor sie ertrank. Aber sie lockt Männer in die Tiefen und hält sie für entsetzliche Foltern gefangen. Auch ich wurde in einer Mondnacht, als die Flut flußaufwärts wanderte, verlockt, und was dann geschah und was ich sah – kurz, ich entkam. Aber an Küsten, wo diese Gefahren lauern, können wir nicht leben.«
Schweigen herrschte; der Regen peitschte nieder. Es gab keine Farben mehr, das Auge fand nichts anderes
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