Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt
natürlich auch an die blutroten Buchstaben auf dem Grabstein. An die Buchstaben, dahingekritzelt von Kinderhänden.
Von der Leichenhalle aus konnte er zum Murr-Haus sehen, der Grabhügel war hoch genug. Stürmische Winde kamen und gingen, dazwischen Stille, wie die vermeintliche Ruhe zwischen zwei Herzschlägen. Nasses Laub, das leicht wie Daunenfedern zum Himmel flog.
Die Wege zwischen den Gräbern waren längst überflutet. In den Mulden sammelte sich dunkles Regenwasser, der Nachthimmel spiegelte sich darin. Einige Grabsteine waren umgekippt, andere neigten sich gefährlich zur Seite. Es würde vermutlich einige Wochen dauern, wenn nicht sogar länger, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Jedenfalls solange es nicht gefrieren würde.
Frank lehnte sich ein wenig aus dem Fenster, zwischen den Fingern der rechten Hand eine Zigarette, die der Wind verschlingen wollte. Auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster stand ein tragbarer Fernseher, daneben das Ewige Licht aus der Leichenhalle (als der Strom ausfiel, hatte er auf die Schnelle keine Kerzen finden können). Jesus, und daran zweifelte Frank nicht, würde ihm das verzeihen.
Er lächelte. Es fühlte sich gut an, dass er die Dinge in die alte Fabrik gebracht hatte, obwohl er nicht wusste, warum er das getan hatte. Abermals hatte ihn ein merkwürdiger Traum heimgesucht, dunkel und hell, still und laut zugleich. Manchmal, aber das würde er bestimmt niemandem erzählen, schien es ihm, als würden ihm die Toten dort draußen Träume schicken. Gute Träume, schlechte Träume, Träume von Zuhause. Aus den Gebeinen der Toten in seinen Kopf, seinen Bauch, sein Herz.
Heute Morgen war er mit diesem eigenartigen Traum aufgewacht, und eine ganze Weile lang hatte er gehofft, ihn zu vergessen. Jene Bilder dieser Nacht, von Kindern, die wie Ameisen in die Fabrikhalle strömten. Die sich retteten, so zumindest schien es ihm.
Frank nahm eine weitere Zigarette aus der Blechschachtel, strich sie glatt und zündete sie mit einem Streichholz an. Er inhalierte, tief, ruhig, und entließ den Rauch mit einem Husten.
Die Dinge gehören zusammen, obwohl man nicht weiß, warum. Verrückt!, dachte er.
Erst vor drei Jahren hatte er angefangen, Dinge zu sammeln. Zuvor hatte er das nie getan, nicht einmal als Kind. Natürlich hatte er einige Murmeln gehabt, zwei davon besaß er immer noch, zwei dunkelblaue Augen, die in einer Schublade auf das nächste Spiel warteten. Es war wie der Drang, einen juckenden Mückenstich so lange zu kratzen, bis er blutete.
Mit Wolldecken hatte es angefangen. Er hatte jeden gefragt. Keller und Dachböden wurden nach alten, fadenscheinigen Decken durchkemmt. Man gab sie ihm, weil alle dachten, er könne sich keine neuen leisten. Danach war die juckende Stelle gewandert, nun waren es Bücher, die er suchte. Kistenweise schleppten die Leute Bücher an, die meisten davon Kinderbücher, viele davon so gut wie neu.
Wir haben keine Kinder
, murmelten sie.
Weiß Gott, wo die herkommen. Hab sie in der Garage gefunden
...
Fünfundachtzig Bücher hatte Frank zusammenbekommen, viele davon kannte er nicht. In ihrem Haus hatte es nur eine Bibel gegeben und hinter dem Küchenschrank versteckt – und letztendlich vergessen – Adolf Hitlers »Mein Kampf«. Wie wunderbar es nun war, diese Bücher zu berühren, ihren Geruch aufzunehmen, wenn er die Blätter unter seinem Daumen tanzen ließ. Zeichnungen von fernen Ländern, von magischen Menschen und unglaublichen Gestalten. Nie zuvor in seinem Leben hatte Frank so etwas gesehen. Seit langer Zeit hatte er sich nicht mehr so glücklich und geborgen gefühlt, dort, auf seinem zerschlissenen Sofa sitzend, wackelige Stapel Bücher um sich aufgetürmt. »Wo die wilden Kerle wohnen« gefiel ihm am besten. Hätte er nur dieses Buch als Kind besessen, die Tage wären wärmer, wären heller gewesen und die Nächte kürzer.
Das Jucken hatte nur für einen Moment aufgehört. Eines Nachts war Frank erwacht und glaubte, verrückt zu werden, einen Herzinfarkt zu bekommen, einen Schlaganfall oder beides zugleich. Taub gewordene Hände, kribbelnde Fingerspitzen, als hätte er in einen Ameisenhaufen gefasst. In seiner Wohnung gab es keinen Telefonanschluss, den Doktor konnte er also nicht anrufen. Ein heiseres Lachen entglitt ihm bei der Vorstellung, er würde nach unten gehen, um sich zum Sterben auf den kalten Fliesenboden der Leichenhalle zu legen. Irgendwer, wahrscheinlich der Pfarrer, würde ihn am nächsten Tag finden.
Aber Frank
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