Kinderland. Zweiter Teil: Unheil kommt über die Stadt

er sie, es waren seine Freunde gewesen. Waren es immer noch. Freunde, die er niemals vergessen konnte.
    Seine Handschrift wirkte fahrig, zittrig an manchen Stellen. An den Rändern hatte er Skizzen und Notizen gemacht. Allein die Vorstellung, dass er mit ihnen hätte leben können, war so hell, so klar. Mein Gott, sie hätten die Welt verändern können! Haus an Haus, immer noch die Blechbüchsentelefone über den Himmel gespannt. Herz an Herz, auch das.
    Es waren diese Träume, die ihn glücklich und unglücklich zugleich machten. Jene Träume, in denen er in seinem Garten saß und Robert zuhörte, der Gitarre spielte und dabei sang. Alfons, der Walfischzähne zählte, eine Piratenaugenklappe tragend, geheimnisvolle Shantys murmelnd. Das Himmelreich, das tatsächliche Himmelreich, wäre dort gewesen, bei ihnen, davon war Christoph überzeugt. Die Baker Street mit Holmes & Watson, der Jazz-Laden mit blauen Tönen, versteckt hinter den Bäumen die Zeitmaschine von H. G. Wells. Sie hätten alles und jeder sein können, und sie hätten das Leben umrissen. Sara auf seinem Schoß, wartend auf die Abenddämmerung, er ganz nah bei ihr, ihren Duft atmend.
    Über all dies hatte Christoph geschrieben, wach gehalten von Kaffee und Zigaretten, eingetaucht in aufgeschlagene Bücher und festgehaltene Fotografien. Mit seinen Worten hatte er seine Freunde wieder zum Leben erweckt, zwischen Mitternacht und Morgengrauen. Vielleicht war auch das der Grund, warum er sie nicht gesehen hatte, hier unten, auf dem Löwenzahnfeld. Denn sie waren hier. Bei ihm.
    Niemand auf der Welt möchte vergessen werden, dachte Christoph, den Nebel betrachtend.
    Natürlich war er hinausgelaufen, um seine Schwester zu suchen, aber sie blieb verschwunden. Das Stück Papier durchnässt, auf dem Schmutzwasser treibend wie ein wankendes Papierboot. Christoph hatte es am Holzofen getrocknet und glatt gestrichen, die krakelige Kinderschrift verblasst:
     
    Erzähl mich.
    Für immer.
    Wenn es regnet.
     
    Christoph dachte an seine Kindheit, an die trüben Regentage, spiegelnden Asphalt, endlose tiefe Himmel. Nie verlöschende Straßenlampen, die Krähen, die auf ihnen saßen und schliefen. Doch egal, wie sehr er sich auch bemühte, er konnte sich an keine guten Geschichten erinnern. Nur Menschen mit lebendigen Herzen können wahrhaftige Geschichten erzählen. Mit Herzen, die pochen und schlagen, die rasen und stolpern. Nimmt man die Geschichten hinfort, bleibt nichts übrig, was einem am Leben erhält. Dann ist das Sterben nur noch einen Windhauch entfernt.
    So war es. Und so blieb es.

Über den Autor

     
    Richard Lorenz , geboren 1972 in Freising, und heute in München lebend, arbeitete im Bereich der onkologischen Pflege und Palliativmedizin, als freier Journalist für die Süddeutsche Zeitung Freising und als Konzertveranstalter, bevor er sich ganz auf das literarische Schreiben konzentrierte. Zahlreiche seiner Kurzgeschichten wurden seither veröffentlicht. Im Frühjahr 2014 erscheint zudem sein erster Roman »AMERIKA PLAKATE oder wie Leibrand aus der Welt fiel« in der Edition Phantasia.

Vorschau

     
    Am 10.01.2014 erscheint der dritte Teil der Reihe
Kinderland
von Richard Lorenz: »Sommerwolken«.
     
    Weitere Informationen zur Reihe finden Sie unter www.heypublishing.com/kinderland .
     
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