Kinderseelen Verstehen
direkten, nahen Einflussmerkmalen wie beispielsweise den erlebten Erziehungsstil der Eltern oder das Kommunikationsverhalten der ErzieherInnen in den Kindertagesstätten – und den »distalen Faktoren« – den weiter entfernten, indirekten Einflüssen wie kulturellen Besonderheiten – unterschieden.) Gleichzeitig ist man sich in der Annahme einig, dass es die vorgeburtlichen Monate und die ersten drei bis fünf Lebensjahre sind, die das Leben für die Gegenwart und Zukunft ganz entscheidend – nachhaltig – prägen.
Es können besonders angenehme Eindrücke sein, die dem Kind immer wieder das Gefühl vermittelt haben, sich als gern gesehener Gast in dieser Welt zu fühlen. Solche Eindrücke wirken sich besonders entwicklungsförderlich auf das weitere seelische Wachstum von Kindern aus. Unangenehme Erlebnisse können sich dagegen entwicklungshinderlich auf ein Kind auswirken. Solche negativen Erfahrungen und Geschehnisse offenbaren sich beispielsweise in Entwicklungsverzögerungen, Entwicklungsrückschritten oder in kindlichen Irritationen (Verhaltensauffälligkeiten) – von Angstempfindungen, Zurückhaltung, Aggressivität und Gewalt bis hin zu zwanghaften Verhaltensweisen.
Gleichzeitig ist der Mensch aber kein »reaktives Wesen«, das lediglich einem bedingungslosen Automatismus der Einfluss nehmenden Welteindrücke gehorcht und zu einem handlungsausführenden Roboter seiner Umwelt wird. So besitzt er Selbststeuerungskräfte, die er einsetzen und nutzen kann (Montada 2008; Flammer 2009; Haug-Schnabel 2009a). Allerdings – und das ist sehr wichtig zu wissen – bedeutet der Besitz einer Fähigkeit nicht unbedingt auch die vorhandene und zugleich realisierbare Möglichkeit, diese auch konkret um- und einzusetzen. Vielmehr bedarf es dazu wiederum einiger Kompetenzen, um die vorhandenen Selbststeuerungskräfte in entsprechenden Situationen auch zu aktivieren. Beispielsweise spielen dabei Merkmale wie Mut, Risikobereitschaft, eine verinnerlichte Sicherheit, Motivation und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen eine große Rolle. Kinder besitzen diese Umsetzungsmöglichkeiten zunächst in »naiver Form«. So schreien sie, wenn ihnen etwas nicht gefällt, sie weinen hemmungslos, wenn sie sich von Trauer überrollt fühlen, oder sie entziehen sich bei großer Angst den erlebten Situationen, die ihnen das entsprechende Unbehagen bereiten. Erst im Laufe der weiteren Entwicklung lernt der Mensch sowohl durch emotional-soziale Sicherheiten als auch durch kognitive Strategien, seine Selbststeuerungs- und Selbstgestaltungskräfte gezielt einzusetzen, wenn er in seinen ersten Lebensjahren die Möglichkeit erfahren konnte, entsprechende Kompetenzen aufzubauen. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Jeder Mensch – schwerste körperliche oder geistige Handicaps einmal beiseite lassend – hat die Möglichkeit, das Fahrradfahren zu erlernen oder den Führerschein zu erwerben. Gleichzeitig bedeutet der Besitz eines Fahrrades oder eines Autos nicht automatisch, dass der Mensch die Nutzung schon von Geburt an beherrscht. Vielmehr ist er gezwungen, die dafür notwendigen Fertigkeiten durch Übung zu erlernen. Dazu braucht er bestimmte motorische, emotional-soziale und kognitive Kompetenzen, die sich mit zunehmendem Alter weiterentwickeln. Dasselbe kann auf alle anderen vergleichbaren Bereiche übertragen werden: Ski oder Snowboard fahren, schwimmen, handwerkliche Tätigkeiten ausführen usw.
Ebenso bedeutet der Besitz eines Klaviers, einer Geige, einer Querflöte oder eines anderen Musikinstrumentes nicht automatisch, dass der Mensch diese Instrumente beherrscht – aber er kann und könnte diese durch Üben in Verbindung mit Freude und mit einem entsprechenden Musikunterricht spielen lernen. Entscheidend ist dabei, ob der Mensch überhaupt die Möglichkeit erhält, diese Instrumente kennenzulernen und sich mit ihnen vertraut zu machen, wann – in welchem Alter – er sich den Musikinstrumenten zuwendet, wie hoch oder gering motiviert sich der Mensch dieser Herausforderung zuwendet und wie seine Hinwendung zu seinem bevorzugten Instrument von seinem Umfeld unterstützt wird bzw. ob seine Motivation aus eigenen Stücken entstanden ist oder als Erwartungsdruck auf ihn übertragen wurde.
Diese lebensweltbedingten Gegebenheiten sind dabei keine bloßen Aneinanderreihungen von Einzelsituationen, die kognitiv neutral in unserem Gehirn abgespeichert werden. Stets sind mit den Erlebnissen bestimmte Gefühle verbunden, die sich wie
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