Klick mich: Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin (German Edition)
ohne eine Reaktion von Mortensen abzuwarten. Ich öffne mein Schreibprogramm und beginne zu tippen:
Diese Welt überfordert mich. Mit ihrer Tendenz, alles Schöne mit seltsamen Wahrheiten oder das, was wir als solche verstehen, kaputt zu machen. Alles hat immer einen bösen Ursprung oder böse Folgen, entweder hat es den Nazis in die Hände gespielt oder den Kom munisten, hat Massenmörder hervorgebracht oder verharmlost. Alles ist falsch, alles ist verrottet, alles ist relativ. Nichts genießbar, denn Genuss setzt Unwissen voraus. Aber Unwissen wird in unserer Zeit zum Verbrechen. Sind wir uns nicht bewusst über die Umstände, unter denen die Produkte gefertigt werden, die wir konsumieren? Sollten sie uns nicht bewusst sein? Es steht doch alles geschrieben! Alles. Und es ist alles verfügbar, in Daten komprimiert. Wir werden überholt von einem beschleunigten Wissen, das uns jederzeit eine Rechtfertigung abverlangen kann. Es ist ja schließlich da.
Wie oft habe ich mir gewünscht, ignorant sein zu können, dumm oder gar stumm. Eine Art Attrappe in einer Welt, die ich mehr verstehe, als mir lieb ist. Unentdeckt, unwissend, unschuldig.
Natürlich gibt es Fortschritt, sogar gesellschaftlichen. Mit meiner Familiengeschichte wäre ich wohl vor 150 Jahren Milchbäuerin geworden. Besser: die Frau eines Milchbauern. Ich hätte viele Kinder geboren oder wäre verstoßen worden, wenn ich nur Mädchen auf die Welt hätte bringen können oder wollen. Oder wäre direkt im Kloster gelandet. Zu anderen Zeiten im Gulag. Und heute? Schreibe ich und ertrinke in Weltschmerz. Als Milchbauersfrau wäre ich bestimmt glücklicher gewesen. Wobei das auch nur eine Illusion ist. Mein Ehemann wäre stin kend und schwitzend aus dem Stall gekommen, ich hätte ihm stets zur Verfügung stehen müssen und ge nerell wären meine Gefühle irrelevant gewesen. Sind sie das nicht immer noch?
Meine Kopfschmerzen sind während des Tippens stärker geworden, die Gedanken haben sich gewehrt, meinen Kopf zu verlassen. Die Menschen reagieren auf meine Geständnisse, das weiß ich. Sie lieben Boulevard, Drogen und Abgründe. Wieso will ich ihnen das liefern? Kann ich das überhaupt? Sollte ich nicht besser einen Platz im Elfenbeinturm buchen? Sollte die Öffentlichkeit mich nicht kaltlassen? Un möglich. Zwar verletzen mich der Spott und der Hohn, die Angriffe auf meine Person, trotzdem lebe ich von der Auseinandersetzung mit den anderen, die geprägt ist von indirekter Konfrontation. Jeder Satz, jedes Adjektiv kann schlagfertig und gewitzt wirken, keiner weiß, wenn Stunden darüber gebrütet wurde. Es blickt mich aus jedem Profil nur ein imaginärer Mensch an, der sich in meinem Kopf befindet und dem ich willkürlich Verhalten unterstellen kann. Unsere Interaktion wird dadurch egozentrischer und intensiver, denn ich kommuniziere nicht mit einem Menschen – ich kommuniziere mit einem Monitor. Und dieser Monitor ist so herzlos, wie ich ihn brauche, um meine Seele in die digitalen Sphären zu kippen.
Wie Jack the Ripper mich das Leben lehrte
tl;dr: Weil ich in einer heilen Welt aufwuchs, lernte ich das Böse nicht kennen. Also forschte ich im Internet danach. Das lässt einen vielleicht nicht schlafen, aber ein Kettensägenmörder wird man deswegen nicht. Deshalb sind auch die Diskussionen um Jugendschutz Quatsch.
Im Jahr 1995 führte ich ein Gespräch mit meiner Mutter, das mein Leben nachhaltig veränderte. Es ging um Wahrheit, Massenmorde und Hitler. Übliche Themen für Grundschulkinder also. Ich verbrachte damals meine Zeit gerne bei Bekannten, einem Künstlerehepaar. Ich liebte die Farben und die Pinsel und fand es aufregend, ein Bild beim Entstehen zu beobachten. Ei nes Abends erzählte ich, was ich am Nachmittag aufgeschnappt hatte: vom Künstler Adolf Hitler und seinen kleinen Bildern.
»Du kennst den, oder?«, fragte ich meine wohl leicht verdutzte Mutter. Als ich dann mit voller Ernsthaftigkeit erklärte, dass die Juden selbst schuld gewesen seien, dass Hitler versucht hatte, sie auszurotten, wurde sie bleich. Die Begründung, dass die Juden ihn schließlich bei der Kunsthochschule abgelehnt hatten, wirkte nur für mein unwissendes 9-jähriges Ich plausibel. Und für die Künstle rin, die mir diese Geschichte ins Bewusst sein hatte pflanzen wollen. Das folgende Umgangsverbot war nur konsequent, und als meine nervtötenden Warum-Fragen nicht aufhörten, erzählte mir meine Mutter vom Holocaust, dem Zweiten Weltkrieg und was die Nazis
Weitere Kostenlose Bücher