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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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Berufsstand schämen.
    Wir zahlen alle für die Sünden unserer Kollegen.
    Aber Mr Sutton, ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihnen heute keine Worte in den Mund lege.
    Sutton legt den Kopf schief. Wie alt bist du, Kleiner?
    Ich? Im Februar werde ich dreiundzwanzig.
    Ziemlich jung.
    Stimmt. Relativ jung.
    Und warum schicken deine Chefs einen Jungreporter wie dich als Begleiter, wenn Willie so ein heißes Ticket ist, wie du sagst?
    Hm.
    Du hast diesen Auftrag gekriegt, weil du Jude bist? Weil kein anderer aus der Lokalredaktion an Weihnachten arbeiten wollte?
    Schreiber seufzt. Ich möchte Sie nicht anlügen, Mr Sutton. Aber Sie könnten recht haben.
    Sutton mustert den jungen Mann eingehend und kommt zu dem Schluss, dass er ihn falsch eingeschätzt hat. Er ist kein Pfadfinder, er ist ein Stammesführer. Und ein Messdiener. Oder wie immer das jüdische Pendant heißt.
    Schreiber schaut auf die Uhr. Apropos Auftrag, Mr Sutton. Wir sollten langsam los.
    Sutton steht auf und überprüft seine Brusttasche. Er zieht den weißen Umschlag heraus, steckt ihn wieder zurück. Dann zieht er einen Touristenstadtplan von New York heraus – er hat ihn von der Rezeption zusammen mit den Chesterfields und dem Champagner bringen lassen und ihn mit roten Zahlen, roten Linien und Pfeilen markiert. Er gibt Schreiber den Plan.
    Was ist das, Mr Sutton?
    Du wolltest eine Führung durch mein Leben. Da ist sie. Alles ist eingezeichnet.
    So viele Orte?
    Ja. Ich hab sie nummeriert. Immer schön der Reihe nach.
    Das sind also die Schauplätze Ihrer Verbrechen?
    Und anderer Schlüsselerlebnisse. Scheidewege in meinem Leben.
    Schreiber fährt mit dem Finger von einer Nummer zur nächsten. Scheidewege, sagt er. Verstehe.
    Gibt es ein Problem?
    Nein, nein. Nur. Es sieht so aus, als würden wir mehrmals hin und her fahren. Gibt es nicht einen direkteren Weg?
    Wir müssen die Reihenfolge einhalten. Sonst ergibt die Geschichte keinen Sinn.
    Für wen?
    Für dich. Für mich. Für alle. Ich kann dir nicht von Bess erzählen, wenn du nichts von Eddie weißt. Und ich kann dir nichts von Mrs Adams erzählen, wenn du nichts von Bess weißt.
    Von wem?
    Siehst du, genau das meine ich.
    Ja. Schon. Aber Mr Sutton, ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit haben.
    Entweder alles oder nichts.
    Schreiber lacht, aber es klingt eher wie ein Schluchzen. Die Sache ist die, Mr Sutton. Ihre Anwältin hat einen Deal mit meiner Zeitung ausgehandelt.
    Das war ihr Deal. Und das hier ist Willies Deal.
    Schreiber trinkt einen Schluck Kaffee. Sutton mustert den jungen Mann, der in seinem Trenchchoat dasteht und nach einer Lösung sucht. Seine Angst und Verunsicherung stehen ihm groß ins Gesicht geschrieben.
    Keine Panik, Kleiner. Wir müssen nicht an jedem Punkt aussteigen und ein Picknick veranstalten. An manchen Stellen fahren wir einfach vorbei. Damit Willie den Ort in Augenschein nehmen und die Lage sondieren kann.
    Aber meine Ressortleiter, Mr Sutton. Meine Ressortleiter geben die Regeln vor und …
    Sutton knurrt. Aber nicht für mich. Hör zu, Kleiner, das ist keine Verhandlung. Wenn dir mein Plan nicht gefällt, kein Problem, dann gehen wir eben getrennte Wege. Ich bleibe liebend gern in diesem schönen Zimmer, lese ein Buch und bestelle mir ein Club Sandwich.
    Auscheckzeit ist mittags um zwölf.
    Ich bin schon aus drei ausbruchsicheren Gefängnissen früher ausgecheckt, da dürfte es kein Problem sein, einen späteren Checkout aus einem plüschigen Hotel zu schaukeln.
    Aber –
    Vielleicht erledige ich auch ein paar Telefonate. Steht die
Times
im Telefonbuch?
    Schreiber trinkt noch einen Schluck Kaffee und erbleicht, als wäre es Scotch pur. Mr Sutton, die Sache ist nur, dass in Ihrer Karte mehr
Geschichte
steckt, als wir unterbringen können.
    Du solltest dir die Geschichte erst anhören, bevor du das sagst.
    Vielleicht könnten wir bestimmte Orte zuerst besuchen. Zum Beispiel den Schauplatz von Arnold Schusters Mord.
    Klar, und sobald du mich dort hast, brauchst du mich nicht mehr, und ich kann mir den Rest meiner Rundfahrt abschminken. Ich weiß, wie ihr Zeitungstypen tickt.
    Mr Sutton, das würde ich nie tun, Sie können mir vertrauen.
    Dir vertrauen? Bring mich nicht zum Lachen, Kleiner. Mein Bein tut weh, wenn ich lache. Schuster kommt zum Schluss, Ende der Geschichte. Bist du dabei oder nicht?
    Aber Mr Sutton –
    Dabei oder
nicht
, Kleiner.
    Suttons Stimme klingt plötzlich eine Oktave tiefer. Und leicht gereizt. Die Veränderung erschreckt Schreiber,

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