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Knapp am Herz vorbei

Knapp am Herz vorbei

Titel: Knapp am Herz vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J.R. Moehringer
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meine, das ist Willie the Actor – er ist der Chef, klar? Willie the Actor lässt sich von keinem was vorschreiben.
    Schreiber nimmt das Funkgerät vom Armaturenbrett. Lokalredaktion? Bitte melden, Lokalredaktion.
    Das Funkgerät quäkt: Seid ihr schon
Nuscheln
aus dem
Knistern
Nuscheln
Plaza?
    Verstanden.
    Knipser schaltet auf D, und sie schlingern vorwärts in Richtung Fifth Avenue, fahren langsam an den ehemaligen Standorten zweier Banken vorbei, die Sutton 1931 ausgeraubt hatte.
    Wenig Verkehr. Es ist sieben Uhr morgens am ersten Weihnachtsfeiertag, die Temperatur ist elf Grad minus, deshalb sind kaum Menschen unterwegs. Sie biegen in die Fifty-Seventh ein. Sutton sieht drei junge Männer, die im Gehen heftig miteinander diskutieren. Zwei tragen Jeansjacken, der dritte trägt einen langen Ledermantel. Alle drei haben lange zottelige Mähnen.
    Wann genau, sagt Sutton, haben sich eigentlich alle zusammengerottet und beschlossen, nicht mehr zum Friseur zu gehen?
    Schreiber und Knipser schauen sich an und lachen.
    Sutton sieht einen alten Mann, der in einer Mülltonne wühlt. Einen anderen alten Mann, der einen Einkaufswagen voller Besen schiebt. Eine Frau – ziemlich jung, hübsch –, die vor einem Geschäft steht und eine hitzige Diskussion führt. Mit einer Schaufensterpuppe.
    Schreiber dreht sich um und späht auf den Rücksitz. War das Obdachlosenproblem auch so schlimm, bevor Sie ins Gefängnis kamen, Mr Sutton?
    Nein. Weil wir sie nicht obdachlos nannten. Wir nannten sie Bettler. Dann Penner. Ich muss es wissen. In eurem Alter war ich nämlich selbst einer.
    Hey Willie, sagt Knipser, falls Sie Hunger haben, in der Schachtel auf dem Sitz hinten sind Donuts.
    Sutton öffnet die rosa Schachtel. Eine Auswahl. Mit Glasur, Zucker, Marmelade, Krapfen. Danke, Kleiner.
    Bedienen Sie sich. Es sind genug für alle da.
    Vielleicht später.
    Donuts sind meine Schwäche.
    Dann hättest du Capone gemocht.
    Wieso?
    Al hat während der Depression oft Donuts an die Armen verteilt. Er war der erste Verbrecher, der über Öffentlichkeitsarbeit nachgedacht hat.
    Tatsächlich?
    Zumindest hat man ihm vorgeworfen, alles nur aus Imagegründen zu machen. Ich hab ihn mal in einem Nachtclub getroffen und darauf angesprochen. Er meinte, Öffentlichkeitsarbeit würde ihn einen Dreck interessieren. Er wollte nur nicht mitansehen, wie Leute hungern.
    Sutton spürt einen stechenden Schmerz in seinem Bein, der an der Seite hochschießt und knapp hinter seinen Augäpfeln landet. Er lässt den Kopf nach hinten sinken. Irgendwann wird er die beiden bitten müssen, an einem Drugstore anzuhalten. Oder einem Krankenhaus.
    Tja, also, sagt Knipser. Willie, wie fühlt es sich an, frei zu sein?
    Sutton hebt den Kopf. Wie ein Traum, sagt er.
    Das kann ich mir vorstellen.
    Knipser wartet, dass Sutton seine Antwort näher ausführt, doch das tut er nicht.
    Und wie haben Sie die erste Nacht in Freiheit verbracht?
    Sutton seufzt. Ich hab nachgedacht.
    Knipser lacht schallend und schaut Schreiber an. Keine Reaktion. Dann wieder Suttons Spiegelbild. Sie haben
nachgedacht
?
    Ja.
    Nachgedacht?
    Richtig.
    Hatten Sie im Gefängnis nicht genug Zeit zum Nachdenken?
    Es gibt eines, was du im Knast nicht tun darfst, und das ist nachdenken.
    Knipser zündet sich eine Zigarette an. Sutton bemerkt: Newport Menthol. Passt.
    Wenn ich siebzehn Jahre im Knast wäre, sagt Knipser, und sie würden mich rauslassen, wäre Denken das Letzte, was ich täte.
    Das nehme ich dir ohne weiteres ab.
    Schreiber fängt an zu lachen und tut so, als würde er husten.
    Knipser schaut Sutton mit schmalen Augen im Rückspiegel an und streicht dabei mit zwei Fingern die Seitenstreifen seines Fu Manchu entlang.
    Sutton sieht Schilder für den Tunnel. In ein paar Minuten werden sie in Brooklyn sein. Herrgott nochmal, endlich wieder Brooklyn. Sein Herz schlägt schneller. Sie fahren an einem Kino vorbei, blicken alle drei auf die Laufschrift. TELL THEM WILLIE BOY IS HERE . Schreiber und Knipser schütteln den Kopf.
    Was für ein Zufall, sagt Knipser.
    Ausgerechnet dieser Film läuft in dieser Woche an, sagt Schreiber. Das muss ich in meiner Geschichte unterbringen.
    Sutton betrachtet die Laufschrift, bis sie verschwunden ist. Und wer spielt Willie Boy?, fragt er.
    Robert Blake, sagt Knipser. Ich hab die Vorschau gesehen. Ein Western. Über einen jungen Mann, der den Vater seiner Freundin in Notwehr tötet und dann das Weite sucht. Man leitet die Fahndung nach ihm ein, die größte in der

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