Kommissar Steen 01 - Unruhe
Abscheu.
Er nahm den Puls und wusste sofort, dass alles in Ordnung war. Die Regelmäßigkeit eines Sekundenzeigers.
Er ging zurück zum Fenster und sah hinunter auf die dunkle, verwüstete Straße. Die Straßenbeleuchtung war gestern Abend abgeschaltet worden, nachdem die Jugendlichen Fahrradketten oben gegen die Laternen geworfen hatten, um die Leitungen kurzzuschließen. Qualm und glühende Funken stiegen von noch schwelenden Feuern und heruntergebrannten Abfallhaufen auf. Konnte er mit dem Wagen überhaupt bis zum Friedhofseingang kommen? Er überlegte, das Fahrrad zu nehmen, aber wenn er nachher noch ins Präsidium oder in die Gerichtsmedizin musste, brauchte er das Auto.
Im Badezimmer schob er eine Zahnbürste in den Mund, während die Fragen in seinem Kopf kreisten: Wer brachte einen Mann auf dem Friedhof um, mitten in den schlimmsten Unruhen, die Kopenhagen seit vielen Jahren erlebte? Wer war das Opfer? Warum war er umgebracht worden? Und wie?
Es klang nicht nach einem gewöhnlichen Mord. Wenn es einer der Kollegen getan hatte, war hier bald die Hölle los. Die Spannungen zwischen Polizei und Autonomen waren währenddes monatelangen Vorspiels der Aktion stetig gestiegen, und obwohl es auf den Straßen schon jetzt verheerend aussah, war sich Axel darüber im Klaren, dass die Nachricht, die Polizei habe einen Aktivisten getötet, die Wut eskalieren lassen würde.
Aber das war nicht sein Problem. Er hatte nur den Fall zu lösen, ums Aufräumen mussten sich andere kümmern.
Er ging in den Flur und checkte seine Jacke. Brieftasche? Aufnahmegerät? Notizblock? Dann griff er nach dem Mobiltelefon, nahm die volle Tüte aus dem Mülleimer, ging hinunter in den Hof und ließ sie in einem der Container verschwinden. Trat durch das Tor zur Seitenstraße, in der sein Wagen parkte. Ein langer Schritt über ein halb gegessenes Schawarma; Dressing, durchsichtiger Salat und graues Fleisch flossen über die Pflastersteine, dazwischen Brotreste mit Zahnabdruck.
Der Gestank von verbranntem Plastik und Rauch hing zwischen den Häusern. Er öffnete den Kofferraum; Handschuhe, Thermometer, Asservatenbeutel, der Koffer mit der Ausrüstung und der Schutzanzug, alles da.
Normalerweise wäre er in zwei Minuten am Tatort gewesen, doch die Brände machten es unmöglich. Anstatt auf die Nørrebrogade einzubiegen und die dreihundert Meter bis zum Friedhof zu fahren, lenkte er den Wagen von der Hauptschlagader weg und durch kleine Nebenstraßen bis zum Jagtvej, der die Nørrebrogade am Friedhof kreuzte. Von hier konnte er die Polizeiabsperrung am Jugendzentrum sehen, vor dem die Mannschaftswagen Schnauze an Schnauze standen und die ganze Straße blockierten. Ein surreales Bild, eingehüllt in nächtlichen Nebel. Noch bevor er die Kreuzung erreichte, bog er nach links ab und parkte den Wagen in der Fyensgade, einer kleinen Seitenstraße gegenüber dem Friedhof. Hier gab es reichlich freie Parkplätze. Aus Angst, sie könnten angezündet werden, hatten die meisten Leute ihre Autos wer weiß wo abgestellt.
Er nahm den Koffer mit der Ausrüstung und warf den Schutzanzug über die Schulter. Dann stand er auf der Nørrebrogade, die sich von den Seen am Rand des Stadtkerns Indre By bis rüberan die Grenze des Nordwestviertels erstreckt. Zwei Spuren, Fahrradwege und Bürgersteige, die meist befahrene Straße Dänemarks. Normalerweise. Aber jetzt war nichts normal. Einen halben Kilometer weiter in Richtung Innenstadt war eine größere Menschenmenge dabei, zwei Autos in Brand zu stecken. Axel zögerte. Würden sie hierher kommen? Wenn es etwas gab, das er hasste, dann an einem Tatort gestört zu werden. Er überquerte die Straße und ging hinunter zu dem roten Eingangstor, das auf den Friedhof führte. Fuck Politiet stand auf der zweihundertfünfzig Jahre alten Mauer, die den Friedhof umgab.
Ein Gruppenwagen mit sieben Beamten in Kampfanzügen stand quer vor dem offenen Eingangstor. Sie sahen verschwitzt und abgekämpft aus.
Axel schlug zweimal hart gegen die Seitenscheibe und hielt seinen Dienstausweis hoch.
»Vizekriminalkommissar Axel Steen, Morddezernat. Was zum Henker macht ihr hier?«
»Wir haben Anweisung, den Eingang zu sichern, damit unsere Leute unbehelligt reinkommen. Er liegt drinnen an der Mauer.«
»Stellt doch gleich ein Schild auf ›Bitte steinigt uns‹! Und jetzt verschwindet von hier.«
2
Axel Steen betrachtete den Körper, der umgeben von Schneeglöckchen gegen die Mauer des Nørrebro-Friedhofs gelehnt dasaß.
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