Kontrollpunkt
V on dort, wo wir standen, sah man deutlich, warum der Kontrollpunkt gerade an dieser Stelle eingerichtet worden war – es war der höchste Punkt des Weges, der zu der Schranke und dem Häuschen für die Reservewachposten steil aufstieg und von dort ebenso steil wieder abfiel. Wir hatten es zwar nie geprüft und gemessen, doch der abfallende Teil des Weges war genauso lang wie der aufsteigende. Wäre einer am einen und ein anderer am anderen Ende gleichzeitig losmarschiert – vorausgesetzt natürlich, dass alle Bedingungen ihres Gehens gleich gewesen wären –, hätten diese beiden sich genau an der Schranke getroffen. Genau gesagt, jeder von ihnen hätte seine Seite des Schlagbaums erreicht und von dort den anderen hinter der Absperrung angestarrt. Auf dem Rückweg wäre – natürlich die gleichen Bedingungen vorausgesetzt – dasselbe geschehen, beide Männer hätten zur gleichen Zeit den ebenen Teil des Weges erreicht, bevor dieser in den Wald einbog. Im Wald waren wir noch nie gewesen, nicht nur, weil der nicht zu unserem Aufgabenbereich gehörte, sondern weil wir alle Städter waren ohne Beziehung zum Wald. Wäre einer von uns in den Wald gegangen, hätte er vermutlich nie mehr herausgefunden. Ausgenommen Mladen, der im Gebirge aufgewachsen war. Der Wald war sein zweites Zuhause, und es war sogar zu vermuten, dass unsere Kompanie wegen Mladens Kenntnissen der Waldpflanzen den Auftrag bekommen hatte, die Schranke und den Kontrollpunkt zu bewachen. Er hatte nämlich die richtige Antwort auf die Frage gegeben, wovon die Soldaten sich ernähren sollten, wenn sie sich im Wald verstecken müssten. Wir sind also hierher gebracht worden, und jetzt, nach einer Woche, sieht es aus, als würden wir so bald keine neue Aufgabe bekommen. Zu diesem Schluss kamen wir von selbst, weil während dieser Zeit weder auf der einen noch auf der anderen Seite der Schranke jemand aufgetaucht und der Sender, über den wir mit der Kommandozentrale Verbindung halten sollten, schon am zweiten Tag verstummt war und sich danach nur in unregelmäßigen Abständen meldete. Die Soldaten durften keine Mobiltelefone dabeihaben, weil diese das militärische Netz störten. Und von den drei dennoch mitgeführten Handys funktionierte keines, weil es keinen Strom gab, um sie aufzuladen. Man konnte also sagen, dass wir uns ohne Verbindung zum Hauptquartier und ohne jeglichen Kontakt zur Außenwelt so verloren vorkamen wie Schiffbrüchige auf einem riesigen Ozean. Das Schlimmste war, dass wir nicht wussten, aus welcher Richtung wir gekommen waren. Die Lastwagen, die uns nachts hierher transportiert und vor Tagesanbruch auf einem breiten Weg ausgeladen hatten, auf dem wir durch den Wald zum Kontrollpunkt gelangten, waren, als um uns herum noch Dunkelheit herrschte, sofort wieder zurückgekehrt. Als es endlich hell wurde, war sich niemand mehr sicher, auf welchem Weg die Lastwagen fortgefahren waren. Man sah zwar überall Reifenspuren, aber sie verliefen kreuz und quer, waren miteinander verflochten, wiesen in alle Richtungen, so dass sich nicht feststellen ließ, welcher Weg zu unserem Lager zurückführte. Diese Frage stellten wir uns aber erst nach einigen Tagen, als die ungewöhnliche Stille dieses Ortes Zweifel in uns weckte, doch da waren die Reifenspuren kaum mehr zu sehen, vor allem die im Gras nicht, das sich inzwischen wieder aufgerichtet hatte. Es blieb uns nichts anderes übrig, als weiter das zu tun, weswegen wir hier waren: Wache zu schieben und den Verkehr von Menschen und Waren am Kontrollpunkt im Auge zu behalten. Niemand hatte uns gesagt, ob sich der Kontrollpunkt an der Grenze zwischen zwei Staaten befand oder an einem Feldrain, der zwei Dorfgemarkungen voneinander trennte. Aber das war wohl auch gar nicht wichtig. Ein Soldat darf nie fragen, warum er etwas tun soll, sondern muss es tun und erst später fragen. Das bedeutete: Wenn man uns aufgetragen hatte, den Kontrollpunkt zu bewachen, dann sollten wir das auch tun, ohne viel Zeit mit Mutmaßungen zu verlieren. Deshalb arbeitete unser Kommandant gewissenhaft Pläne aus, er reduzierte die Zahl der Wachposten am Tag, damit die Soldaten für die Nacht ausgeruht waren, wenn sicherheitshalber vier Posten eingesetzt wurden. Um uns herum bewegte sich gar nichts, weder tagsüber noch nachts – das stellten alle Wachposten übereinstimmend fest –, aber unser Kommandant wollte als Soldat alter Schule nicht nachgeben und die Zahl der Nachtwachen nicht verringern. Wo nichts knirscht,
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