Kopernikus 8
Gondeln passieren. Die Röhre glüht gelblich, als wäre sie mit elektrifiziertem Gas gefüllt. Die Gondel beschleunigt rasch. Einige überholen zwar noch, aber Chibs Gondel wird schließlich so schnell, daß keine andere mehr mithalten kann. Das Heck einer Gondel vor ihm ist wie eine schimmernde Scheibe, die er erst dann einholen kann, wenn sie bremst und in ihren Zielbahnhof einläuft. Es sind nicht viele Gondeln in der Röhre. Die Nord-Süd-Route ist, ungeachtet der nach 100 Millionen zählenden Bevölkerung, nur wenig befahren. Die meisten Bewohner LAs bleiben in den Wänden ihrer Wohnungen. In den Ost-West-Röhren ist der Verkehr etwas dichter, da viele die öffentlichen Badestrände am Meer den kleinen Swimming-pools vorziehen.
Das Fahrzeug schießt dröhnend nach Süden. Nach wenigen Minuten verläuft die Röhre plötzlich abwärts, in einem Winkel von fünfundvierzig Grad zur Horizontalen geneigt. Ebene um Ebene bleibt zurück.
Chib kann die Menschen und die Architektur anderer Städte durch die transparenten Wände erkennen. Ebene 8, Long Beach, ist interessant. Die Häuser sehen wie aufeinandergeschichtete Kuchenplatten aus Quarz aus, eine auf der anderen, offenes Ende auf offenem Ende, die Einheit ist auf einer Säule mit geschnitzten Gestalten errichtet, die Zufahrtsstraße ist eine freischwebende Strebe.
Auf Ebene 3 A verläuft die Röhre wieder eben. Nun rast die Gondel an Besitzungen vorbei, angesichts deren Anblick Mama die Augen schließen muß. Chib drückt die Hand seiner Mutter und denkt an den Halbbruder und die Vettern und Kusinen, die sich hinter dem gelblichen Kunststoff befinden. In dieser Ebene sind fünfzehn Prozent der Bevölkerung untergebracht, die Zurückgebliebenen, die unheilbar Irrsinnigen, die zu Häßlichen, die Monstrositäten, die Altersschwachen und Senilen. Dort drängen sie sich zusammen, die leeren, ausdruckslosen oder verzerrten Gesichter gegen die Wandungen der Röhren gepreßt, um die schönen Gondeln vorüber schweben zu sehen.
Eine „humanitäre“ Medizin hält alle Babys am Leben, die eigentlich – nach dem Willen der Natur – sterben sollten. Seit dem zwanzigsten Jahrhundert werden Menschen mit defekten Genen am Leben erhalten. Daher können diese Gene sich auch ungehindert ausbreiten. Das Tragische ist, daß die Wissenschaft inzwischen soweit ist, daß defekte Gene in Ovum und Sperma korrigiert werden können. Theoretisch könnten alle Menschen mit völlig gesunden Körpern und physisch perfekten Gehirnen gesegnet sein. Das Problem ist jedoch, daß wir nicht genügend Ärzte haben, um mit der Geburtenrate fertig zu werden, obwohl diese Rate ständig weiter sinkt.
Die Medizin hält die Menschen auch so lange am Leben, daß sie hoffnungslos senil werden. Daraus resultiert eine immer größer werdende Anzahl sabbernder, hirnloser Narren. Gleichzeitig eine ständig zunehmende Zahl von Geisteskrankheiten. Es gäbe genügend Therapien und Drogen, um die meisten davon wieder zum „Normalzustand“ zurückzubringen, aber bei weitem nicht genug Ärzte und Räumlichkeiten. Eines Tages ist das vielleicht anders.
Was sollen wir jetzt tun? Die alten Griechen setzten kranke Kinder in den Feldern aus, damit sie starben. Die Eskimos schickten ihre Alten auf Eisschollen auf die Reise. Sollen wir unsere abnormen Kinder und Alten vergasen? Manchmal halte ich das für die gnädigste Methode. Aber ich kann von niemandem verlangen, daß er den Knopf drückt, den ich selbst niemals drücken würde.
Ich würde den ersten erschießen, der danach greift.
aus Großpapas Privaten Ergüssen
Die Gondel nähert sich einer
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