Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
Urteile betraf – man konnte fast darauf wetten, dass sie nie die Höchststrafe verhängte.
Daher hätte sich Stan Dempsey eigentlich nicht über die Nachricht wundern dürfen, die Freitagnachmittag durch den Äther ging. Es hatte nicht einmal das Gericht getagt. Das Treffen hatte im Richterzimmer von Carey Moore stattgefunden.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, hatte er die Schreibtischarbeit ruhen lassen, zu der er seit Monaten verdonnert war, und war über die Straße zum Government Center gegangen.
Seine Vorgesetzten hatten sich Sorgen gemacht, dass er nach den Haas-Morden nicht belastbar genug war, um wieder die normale Ermittlungsarbeit aufzunehmen. Sie hatten sich auch Sorgen gemacht, dass er ein Sicherheitsrisiko war, dass er jederzeit ausrasten könnte, so wie er beim Verhör von Karl Dahl am Abend seiner Verhaftung ausgerastet war.
Dempsey wusste allerdings ganz genau, dass er das nicht tun würde. Es ging ihm wieder gut. In seinen achtundzwanzig Jahren bei der Polizei war er immer ein vorbildlicher Polizist gewesen – schon als er noch auf Streife gegangen war und auch später, im Morddezernat. Es hatte nie irgendwelche Beschwerden gegen ihn gegeben. Die Haas-Morde hatten ihn allerdings verwandelt. Er war an diesem Sommerabend in der unheimlichen Stille zwischen den Tornados in das Haus gegangen, und als er Stunden später wieder herauskam, war er ein anderer Mann geworden.
Man hatte ihn zu einem Seelenklempner geschickt, aber er hatte nie mehr erzählt als das, was in seinem offiziellen Bericht und seiner Aussage gegenüber Logan im Büro der Staatsanwaltschaft nachzulesen war. Er hatte niemals jemandem von seinen Empfindungen erzählt. Er war zweimal in der Woche zu dem Seelenklempner gegangen, hatte sich auf die Couch gelegt und fünfundvierzig Minuten lang stumm an die Decke gestarrt.
In Wahrheit wagte er es einfach nicht, etwas zu sagen. Wenn jemand gewusst hätte, welche Gedanken durch seinen Kopf geisterten, wäre er ohne viel Federlesens in die Klapsmühle verfrachtet worden. Die Bilder vom Tatort steckten in seinem Hirn wie Glassplitter. Und diese Bilder konnten unvorhersehbar jederzeit wieder an die Oberfläche dringen und ihn dorthin zurückversetzen. Er konnte den muffigen Keller riechen und den unverkennbaren Geruch eines gewaltsamen Todes. Den sauren, scharfen Geruch von Angst und Entsetzen.
Das Sterben dieser Frau und der beiden Kinder war grauenvoll gewesen. Die Qualen, die sie durchgemacht hatten, unbeschreiblich. Das erste Mal in seinem Leben hatte Stan Dempsey die Kardinalsünde begangen und zugelassen, dass ihm ein Fall unter die Haut ging. Er hatte sich erlaubt, sich die letzten, schrecklichen Stunden im Leben der Opfer vorzustellen, ihre Angst zu spüren, ihre Hilflosigkeit.
Diese Gefühle hatten sich wie Parasiten tief in seine Seele gegraben. Wie vergiftet hatte er sich gefühlt. Er konnte nicht mehr schlafen, weil er befürchtete, wieder von gewaltsamen Racheträumen überfallen zu werden. Die Träume waren in letzter Zeit immer schlimmer geworden, je näher der Prozess gegen Karl Dahl rückte.
Seinen Lieutenant hatten die Berichte des Psychiaters über seine mangelnde Kooperationsbereitschaft weniger beunruhigt als verwirrt. Das hatte damit zu tun, dass sein Lieutenant eine Frau war, und Frauen wollten immer in die Köpfe der Männer hineinsehen und ihre Gedanken wie ein wirres Knäuel Bindfaden herausholen, um die Knoten zu lösen und ihn fein säuberlich aufzuwickeln.
Sie hatte selbst versucht, ihn zum Reden zu bringen. Hatte erklärt, dass sie sich Sorgen um ihn mache. Sie hatte herauszufinden versucht, ob es eine Frau oder ein anderes Familienmitglied gab, mit dem sie reden konnte, um sein beharrliches Schweigen zu brechen.
Aber Stan hatte niemanden mehr. Alle Menschen, die ihm einmal nahegestanden hatten, waren nicht mehr da. Seine Frau hatte sich scheiden lassen, weil er sich innerlich immer mehr zurückgezogen hatte und sie ihr Leben mit jemandem teilen wollte, der sich für sie und ihre Bedürfnisse interessierte.
Seine Tochter lebte mit ihrem »Lebensgefährten« in Portland, Oregon. Sie rief ihn an Weihnachten und am Vatertag an. Er hatte es nicht geschafft, eine enge Beziehung zu ihr aufrechtzuerhalten. Er hatte halt einfach nicht die Mittel dazu, wie ihm der Seelenklempner erklärte. Er war weder offen noch kommunikativ und zeigte kaum etwas von sich. Er hatte nur noch seinen Job. Und den hatte er eigentlich auch nicht mehr.
Seine Vorgesetzten hatten
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