Kovac & Liska 02 - In aller Unschuld
»Eine ganze Menge Leute meinen, dass er schuldig sein muss, wenn er auf der Anklagebank sitzt.«
»Es ist ein Spiel, Stan«, sagte Logan bitter. »Es geht hier nicht um richtig oder falsch. Es geht um Regeln und Fairness und darum sicherzustellen, dass sich niemand aufgrund seines gesunden Menschenverstandes eine Meinung bildet.«
»Können Sie Widerspruch einlegen?«
Logan zuckte ungeduldig die Achseln. »Wir werden sehen. Ich muss jetzt weiter, Stan«, sagte er und klopfte mit seiner großen Hand Dempsey auf die Schulter. »Nur Geduld. Wir kriegen dieses Schwein schon dran.«
Dempsey sah ihm niedergeschlagen nach. Er warf den Korridor hinunter einen Blick zur Tür von Moores Richterzimmer. Am liebsten wäre er zu ihr gegangen und hätte mit ihr gesprochen. Er könnte ihr in allen Einzelheiten von den Dingen erzählen, die er gesehen hatte, und von dem Schrecken, den er seither Tag für Tag, Nacht für Nacht durchleben musste.
Er sah sie vor sich, wie sie gelassen und kühl hinter ihrem Schreibtisch saß, der wie eine Mauer zwischen ihnen stand. Er würde sich ihr höflich vorstellen (da er nicht erwartete, dass sich jemals jemand an ihn erinnerte). Er würde ihr sagen, wie enttäuscht er über ihre Entscheidung war.
Aber dann sah er sich, wie er in die Luft ging, sah, wie er voller Wut um den Schreibtisch lief. Wie sie mit schreckgeweiteten Augen aufsprang und strauchelte, als sie wegzulaufen versuchte. Er erwischte sie in der Ecke, wo sie mit dem Rücken gegen einen Schrank stand, und brüllte sie an.
Er wollte, dass sie dieselbe Angst empfand, die Marlene Haas an dem Tag empfunden haben musste, als Karl Dahl in ihr Haus eingedrungen war und sie und ihre Kinder stundenlang quälte, bevor er sie schließlich abgeschlachtet hatte.
Wut stieg in immer höheren Wellen in ihm auf, überflutete ihn, brandete durch seinen Kopf, schwemmte jeden Gedanken fort. Er fühlte sich innerlich riesig und stark, zu allem fähig. Er sah das Bild vor sich, wie sich seine kurzen, breiten Finger um ihren schönen weißen Hals schlossen, zudrückten, sie schüttelten.
Keiner, der an Stan Dempsey vorbeilief, sah jedoch etwas anderes als einen schmalen Mann mit faltigem, ausdruckslosem Gesicht, der sich am Ende des Korridors herumdrückte.
Er vertrieb die Bilder aus seinem Kopf und verließ das Gebäude, um eine Zigarette zu rauchen.
3
18 : 27
Ich bin ein Feigling, dachte Carey Moore, als sie auf die Uhr auf ihrem Schreibtisch blickte. Nicht wegen der Entscheidung, die sie getroffen hatte, sondern weil sie sich vor deren Folgen versteckte.
Nachdem Logan und Scott ihr Büro verlassen hatten, hatte sie ihre Sekretärin angewiesen, allen Anrufern zu sagen, sie wäre schon nach Hause gegangen. Sie hatte nicht die Kraft, sich den Journalisten zu stellen, und sie wusste, dass sie auf sie warteten, obwohl es Freitagnachmittag war. Der Prozess gegen Karl Dahl wirbelte zu viel Staub auf, um sich früh ins Wochenende zu verabschieden.
Sie wünschte, sie könnte die Augen schließen und wäre wie durch Zauberhand zu Hause bei ihrer Tochter, wenn sie sie wieder öffnete. Sie würden gemeinsam kochen und einen »Frauenabend« mit Fingernägellackieren und Vorlesen verbringen.
David hatte ihr eine Nachricht hinterlassen, dass er zu einem Geschäftsessen mit einem potenziellen Geldgeber für einen Dokumentarfilm müsste, in dem es um eine Gegenüberstellung der Gangster, die in den Dreißigern die Straßen von Minneapolis beherrscht hatten, und den Gangs des 21 . Jahrhunderts, die jetzt ihr Unwesen dort trieben, ging. Es gab Zeiten, da wäre Carey enttäuscht gewesen, dass sie den Abend nicht gemeinsam verbrachten. Heute war sie erleichtert, dass er erst später nach Hause kam.
Den ganzen Tag über hatte sie das Gewicht ihres Amtes auf den Schultern gespürt; noch nie war ihr ein so schwerer Fall wie der von Dahl überantwortet worden. Und wenn sie dann abends nach Hause kam und David war auch da, gaben ihr die zwischen ihnen bestehenden Spannungen das Gefühl, sie befände sich in einer Hochdruckkammer und alles in ihr würde unter dem Druck zusammenbrechen. Es gab keine Zeit, in der sie sich entspannen konnte, in der der Druck nachließ.
Im Laufe der zehn Jahre, die sie nun verheiratet waren, hatten sie langsam verlernt, miteinander zu reden. Sie waren beide nicht mehr glücklich, machten aber auch keine Anstalten, darüber zu sprechen. Sie versteckten sich hinter ihrer Arbeit und kamen im Grunde nur noch wegen ihrer Tochter Lucy
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